Wie schlägt man PSG – hat die Klub-WM das Rezept offengelegt?
Als haushoher Favorit im Finale, nachdem Atletico und Real zerlegt worden waren und zuvor die Demontage in München erfolgt war, wurde PSG in New York von Chelsea vor aller Welt auseinandergenommen: ein klares 3:0, erledigt in einer Halbzeit. Schon im Viertelfinale hatten die Pariser gegen den FC Bayern schwer gelitten. Haben die Engländer und die Deutschen, mit ähnlichen Grundentscheidungen, die an gewisse Schwächephasen der Pariser Europareise erinnern, das Patent darauf angemeldet, Luis Enriques positions- und beziehungsorientiertes Karussell aus der Spur zu bringen?
Fünf innen
Ohne den beträchtlichen Platz einzunehmen, den eine vollständige Darstellung des Spielprojekts mit all seinen Anpassungen erfordern würde, gilt es kurz die kollektiven Kompetenzen zu umreissen, die PSG 24/25 zum denkwürdigen Europameister gemacht haben.
Das Positionsspiel, das Lucho in Paris entwickelt, unterscheidet sich vom ewig gleichen „3-Quadrat-3“ durch eine markante, neue Grundentscheidung. Zusätzlich zu den drei Mittelfeldspielern (Vitinha – Ruiz – J. Neves) kommen nicht nur ein, sondern zwei weitere Akteure hinzu, die den inneren Kern der Offensivanordnung komplettieren. Es sind also fünf innere Elemente. Parallel dazu gibt es ebenso viele Spieler aussen (5: die zwei „Flügel“ und die drei Aufbauspieler), die als äussere Peripherie die Zirkulation des Balls erleichtern und den Gegner maximal auseinanderziehen.
Natürlich sind diese beiden Fünfer-„Klubs“ nicht geschlossen: Einige Spieler, etwa Hakimi, wechseln munter zwischen der inneren und der äusseren Gruppe.
Obwohl die Nutzung der Breite eine Grundsäule des Projekts ist, agieren die fünf inneren Elemente im Gegenteil sehr eng beieinander. Mobilität ist zur obersten Tugend erhoben; die Mittelfeldspieler (oder besser: die „Inneren“) können sehr unterschiedliche Zonen besetzen. Für die Pariser Aufbauspieler ergibt sich dadurch bereits innerhalb des Zentrums eine schier unendliche Zahl an Passlinien, kurz wie lang.
Sobald einer dieser fünf in den Fuss gefunden ist (falls nicht schon in die Tiefe), sind die beiden Breitengeber dieses 3-7-0 – wie oben gesehen – ebenfalls Kandidaten für das Eindringen in den Strafraum. Das war im Hinspiel gegen Arsenal eindeutig: Die Gunners konnten mit dem, was man treffend einen „fünffachen Falschen Neuner“ nennen kann, nicht umgehen und unterlagen der Pariser Ordnung.
Arteta musste daraufhin Saliba in einer Art Halb-Achter-Rolle einsetzen, um Dembélés Wirkungskreis halbwegs einzuhegen. Diese Info dürfte in das, was wir gleich entwickeln, eingeflossen sein.
Ein weiterer wichtiger Punkt: Paris rollt diesen Plan erst aus, nachdem der Gegner zu einem vernünftigen Rückzug in den mittleren Block gezwungen wurde. Gegen hohes Pressing startet PSG seine Spielphasen zunächst in einer Art 4-2-4/4-2-1-3.
Die beiden Flügel dienen dabei gleichzeitig als Breitengeber und Tiefengeher, während vor der Doppelsechs (meist Vitinha – João Neves) Ruiz zwischen drittem Mittelfeldspieler und zweitem Mittelstürmer pendelt. Schon in dieser initialen Phase bringt Paris – ebenfalls – seine Mobilität zur Geltung, ohne die man die Offensivanordnung kaum beschreiben kann.
Gegen Atletico, in L.A. regelrecht zusammengedrückt, zeigt sich bei einem Pariser Aufzug in dieser Formation die mobile Virtuosität: Vitinha übernimmt Nunos Position, Nuno wird zu Fabián, und Fabián wird zu Vitinha. Die Colchoneros versuchen aus der Not heraus, Deckungen zu tauschen: der rechte Achter nimmt Ruiz, der rechte Flügel Vitinha. Während die Viererkette mechanisch zurückweicht, kann sich Nuno zwischen den Linien drehen und anschliessend mit Tempo durchbrechen.
Für den Gegner wird Zonendeckung damit praktisch unmöglich: PSG ist mobil, im Zentrum überbesetzt und in der Tiefe permanent gefährlich. Paris kann seine Zielzonen endlos variieren und nach Belieben überladen. So spielt sich PSG frei – in einer gnadenlosen Dialektik zwischen Breite und Dichte. Trotzdem haben Chelsea und Bayern – mit radikalen Optionen – diese Mechanismen erheblich gestört und zeitweise blockiert.
Fasst man beide Ansätze zusammen, lassen sich einige Grundpfeiler dieses Gegenplans herausarbeiten:
1) 1: Die zentrale Dichte spiegeln, die fünf Inneren neutralisieren
Das sieht man gegen Atleti mit Nuno ebenso deutlich wie bei Dembélés gefährlichen Rückfallen gegen Arsenal: Selbst wenn man das Pariser Dreier-Mittelfeld mannorientiert spiegelt, bietet sich unweigerlich ein zusätzliches Element an und bleibt frei. Logisch: Ein Innenverteidiger muss folglich herausrücken, und sowohl Chelsea als auch Bayern haben diese Option bereitwillig und in sehr klaren Proportionen aktiviert.
Da Fabián Ruiz (oder Neves) grosszügig seitlich rochiert, befindet er sich häufig auf derselben Vertikallinie wie der Pariser Neuner. Mit anderen Worten: Paris überlädt gezielt die Zone eines einzelnen Innenverteidigers. Das ist oben ebenso zu sehen bei der Dreierreihe Doué – João Neves – Dembélé, die allesamt auf Kiwior zulaufen.
Um diese Situation, die so viel Schaden angerichtet hat und gewissermassen die „Tugenden des Stapelns“ bei PSG illustriert, nicht zu wiederholen, schneidet Kompany hart: Keiner darf allein zurückfallen, egal wo. Doch selbst mit einem Verteidiger und zwei Bayern-Mittelfeldspielern gegen drei Pariser Mittelfeldspieler reicht die Rechnung gegen die fünf Inneren nicht. Wer nimmt Hakimi oder Nuno auf, die sich so bereitwillig innen anbieten?
Bayerns Antwort: extreme Kompaktheit der Flügel. In einem quasi 4-1-3-2 erleichtern Coman und Olise Paris zwar nominal den Zugang nach aussen, weil sie seitlich sehr eng stehen und nur auf Pass nach vorne herausschieben. Muss aber einer von ihnen einen inneren Spieler aufnehmen, dann tut er das ohne Zögern.
Gleichzeitig pressen vorne Kane und Musiala Pacho und Marquinhos und krümmen ihre Laufwege, um die Anspiele nach aussen auf die Aussenverteidiger des 4-2-4 möglichst zu kappen. Kompany setzt alles daran, Paris den Sprung von Phase 1 in Phase 2 zu verwehren.
Im Finale entscheiden sich Colwill und Chalobah nach derselben Logik: Während Enzo (Stürmer) und João Pedro die Rollen von Kane und Musiala spielen, jagt Reece James Vitinha, Caicedo nimmt Neves. Chalobah verlässt ohne zu zögern seinen rechten Innenverteidiger-Slot, um Fabián Ruiz zu verfolgen.
Obwohl Paris an der Kehle gepackt wird, konnte es gegen den zurückgezogenen Bayern-Block das berühmte 5-5 aufziehen. Dann war es glasklar: Coman musste Hakimi bei dessen inneren Läufen verfolgen, Olise entsprechend Nuno, sollte der das Gleiche tun.
Man sieht bereits in der Vorphase dieser defensiven Bewegung, wenn Hakimi wie üblich ins Spielzentrum einrückt, um vom initialen 4-2-4 ins „5 innen – 5 aussen“ zu kippen: Coman weiss genau, was zu tun ist, und verfolgt den Marokkaner bis in eine fast absurde Innenverteidigerposition.
Nach derselben Logik rückt bei Chelsea Neto beim Rückzug der Blues phasenweise faktisch als linker Aussenverteidiger in ein situatives 5-4-1. Wie unten zu sehen, als Paris rechts versucht, jene Rotation zu reproduzieren, die Atletico links zerlegt hat. Mit kleinen Ausnahmen, wenn es die Umstände erzwingen, lassen die Blues den jagenden Innenverteidiger wieder in die Kette zurückfallen, während aus extremer Vorsicht Reece James Fabián Ruiz und Enzo Vitinha übernimmt.
2) Deckungswechsel auf ein Minimum reduzieren
Paris kombiniert Breite und „Zusammenziehen“. Theoretisch hat Dichte Vorteile, aber auch Grenzen: Zwei Spieler lassen sich leichter gleichzeitig verteidigen, wenn sie nur einen Meter auseinander stehen. Klingt logisch.
Mit seiner Körperstellung beim berüchtigten scharf gespielten Pass hat Nuno vor sich – in einem schmalen vertikalen Korridor – vier Pariser: Vitinha, Dembélé, Neves und Doué. Quasi „hintereinander aufgereiht“. In diesem Korridor stehen nur zwei Rote: Kiwior und Mikel Merino.
Viele Teams entscheiden sich dennoch für eine weitgehend stabile Struktur. Sie akzeptieren also Unterzahl in kleinen Räumen, wenn der Gegner sich dort so „stapelt“. Das bedeutet zwangsläufig, dass ein Einzelner mehrere Spieler gleichzeitig in Deckung kontrollieren muss.
Per Interception hätte Merino „eigentlich“ den Pass Nunos auf Dembélé kappen können. Eine gewisse Struktur zu bewahren, ermöglicht solche Ballgewinne und anschliessend das Andocken an ungebundene, also freie Mitspieler. Etwa an Martinelli in besagter Szene. Zumal das Abseits die „letzten an der Kette“ zusätzlich neutralisieren kann, wie in der fiktiven Grafik, in der Doué und Neves dadurch aus dem Spiel genommen würden. Vor diesem Hintergrund ist Salibas ursprüngliche Entscheidung, in der Verteidigungslinie zu bleiben, völlig stimmig.
Wenn Ruiz vor Tah zurückfällt, hätte dieselbe Logik den Deutschen zum Deckungswechsel veranlasst: Pavlović hätte Ruiz und Vitinha (nah beieinander) alleine gemanagt, während Tah die Viererkette aufgefüllt hätte, die dank guter Besetzung ruhig hätte vorschieben können. Genau das geschieht jedoch nicht.
Denn was abstrakt logisch ist, gilt gegen dieses PSG nicht. Wie soll man gegen ein Team, das derart viele Variationen zeigt und in der Lage ist, Passwinkel in extrem schmalen „Spektren“ zu finden, eine Standardstruktur definieren, die bewusst Zonen „opfert“? Spontane und effiziente Deckungswechsel werden über die Dauer eines Spiels schlicht unmöglich. Das ist der Wendepunkt vieler Gegentore: Der Gegner verliert die Balance genau dann, wenn ein Mittelfeldspieler meint, die Deckung des startenden Spielers übergeben zu können und die Abwehr werde es schon regeln.
Gegen OM im Parc ist das glasklar: In einem 5-2-3 haben De Zerbis Männer zunächst klare Bezugspunkte, abgestimmt auf PSGs 3-2-5.
Das Problem beginnt, als sich die Pariser „an der Schnur“ aufstellen: Kvara und Doué lassen sich fallen, während Ruiz das letzte Glied dieser Aufreihung wird.
Balerdi bleibt, ebenso „logisch“ wie Saliba, in der Linie, während Kondo Ruiz ziehen lässt, im Glauben, die Kette werde ihn aufnehmen. Schlechte Idee: Bei so vielen inneren Optionen hat am Ende niemand Ruiz.
Hakimi hat die Übersicht und steckt auf Ruiz durch, obwohl er erneut vier Ziele entlang eines schmalen diagonalen Korridors bedienen konnte. Der Moment des Deckungswechsels ist tödlich.
Die Interisti demonstrieren die verheerenden Folgen dieser Pariser Tauschgeschäfte perfekt. Man sieht es bei Carlos Augusto und Barella (jeweils auf Vitinha und Fabián) vor dem 3:0: Inter startet sein Pressing mit reiner 1-zu-1-Deckung im Zentrum. Augusto lässt Barella den startenden Vitinha „übernehmen“. Der Portugiese läuft klar auf Barella zu und im nächsten Moment ebenso klar auf Acerbi. Barella meint wiederum, ihn an Acerbi übergeben zu können. Fixiert von Dembélé, kann der Routinier den quirlig startenden Vitinha nicht aufnehmen, wie Barella es erwartet hatte: Vitinha wird bedient, das Pressing bricht zusammen.
Wie zuvor Nuno und Hakimi verzögert Dembélé sein Timing perfekt und wartet genau den Moment des „Wechsels“, um den Ball loszuwerden. Sieht man sich all diese Tore an, ist es eindeutig: Dieses Konzept ist bei Paris bewusst verinnerlicht. Davon auszugehen, ein startender Pariser werde zunächst von jenem Mittelfeldspieler in jener Zone und anschliessend von diesem Verteidiger übernommen, ist frommes Wunschdenken.
Bayern wie Chelsea haben daher die Unmöglichkeit dieses „gemischten“ Defensivmodus anerkannt und die fatalen Läufe konsequent gespiegelt. Keine Deckungswechsel: keine Verwirrung. Und kein tödlicher Pass für das Football-Pick-and-Roll des Pariser.
Gleiche Absicht bei Fabián gegen Bayern: Von Tah aufgenommen, nähert er sich bewusst Pavlović, um den Deckungswechsel zu erzwingen. Vertraut mit diesem Move, der so oft funktioniert hat, koordinieren sich die Bayern, um nicht zu wechseln: PSGs Plan scheitert.
Dasselbe bei Kanes Grosschance: Kimmich verfolgt Vitinha bei dessen Tiefe, ohne je zu übergeben – das deutsche 4-4-2 wird komplett und bewusst deformiert.
Die Jagd ist eröffnet
Gerüttelt von Arsenal im Parc und durchgeschüttelt in Villa Park, dann dieses heikle „Welt-Viertelfinale“ gegen Bayern, und schliesslich die finale Abreibung durch Chelsea: PSGs Super-Aura hat Kratzer bekommen. Gleichzeitig halten die Pariser ihre Gegner weiterhin – milde formuliert – in Respekt. In einer einzigartigen Formel hat Luis Enrique mit seinem Staff ein offensives Monster geschaffen. Jenseits des Talents entzieht die unerschöpfliche Mobilität dem Gegner jeden Bezugspunkt und jede Fähigkeit, defensiv zu improvisieren. Zonale Deckung oder eine vordefinierte Struktur ist gegen dieses PSG extrem riskant, wenn nicht unmöglich. Einige Akteure, etwa Fabián Ruiz, haben im Laufe des europäischen Epos buchstäblich alle Linien besetzt, vom linken Innenverteidiger bis zum Mittelstürmer.
Arbeiten Gegner wie Chelsea und Bayern jedoch mindestens so sehr am Herzen wie an den Tentakelspitzen, entsteht ein recht klares Pressing-Gerüst, das Paris weh tut: alle inneren Optionen schliessen und sich so wenig wie möglich auf Deckungswechsel verlassen, um Unterzahlsituationen zu managen.
— ptvids (@primertoquevid) August 12, 2025
Die Jagd auf den Champion ist eröffnet. Es wird hochinteressant sein zu sehen, wie die Kontrahenten gegen den Pariser Klub agieren, der ab September die Mission Back-to-Back in Europa anpeilt. Und der möglicherweise, einmal mehr, seine Offensivanordnung anpassen muss, nun in der Rolle des Gejagten, beobachteter denn je.