Der Coach hat klare Vorstellungen und nimmt vor Namen oder Leistungen keine Rücksicht. Ein Beispiel ist die Degradierung von Noah Katterbach. Doch auch andere Spieler haben Polzins Geradlinigkeit schon zu spüren bekommen.
Franz-Josef Strauss hatte die Erkenntnis bereits vor einem knappen halben Jahrhundert: "Politiker ist ein Schimpfwort", soll der bayerische Charakterkopf irgendwann in den 1970er-Jahren geschlussfolgert haben. Wenn der das schon sagt…
Im beinharten Bilanzen-Business Bundesliga ist der Begriff jedenfalls eindeutig konnotiert. Politisches Verhalten im Profifussball - da geht es um Strippen, die gezogen werden. Um Hinterzimmer, in denen strategische Beschlüsse gefasst werden und um Amigo-Deals - immer mit demselben Ziel: Profit. Diese - mässig sympathische Realität - führt zu der Frage: Ist es in dieser Branche überhaupt möglich, den Kopf über Wasser zu halten, ohne Fallen und Finten zu stellen, sich permanent Vorteile zu ertricksen? Der Verlauf der HSV-Saison wird bei der Beantwortung dieser Frage möglicherweise sachdienliche Hinweise liefern. Denn die Hamburger Bosse haben mit Merlin Polzin einen ehrlichen Pragmatiker auf die Trainerbank beordert.
Klare Vorstellungen
Die Gemeinschaft, von der im Sport immer alle reden, ist beim HSV besonders heftigen Einflüssen und Attacken ausgesetzt. Intern und extern - das hat im Volkspark Tradition. Ein Schritt neben die Linie kann atmosphärische Erdbeben heraufbeschwören. Ist es also die beste Variante, möglichst nichts zu tun, um bloss nicht das nächste Gewitter zu begünstigen? Polzin hat in der Hinsicht klare Vorstellungen. Er will agieren. Proaktiv! Noah Katterbach vorerst in die Obhut der zweiten Mannschaft zu beordern, ist ein gutes Beispiel für Polzins Prinzipien.
Der 24-jährige Allrounder ist ein redlicher Arbeiter, der sich nach zwei Kreuzbandrissen mit beachtlicher Beharrlichkeit zurück in den Matchfit-Modus geackert hat - Anzeichen einer Larifari-Haltung? Von aussen nicht erkennbar. Von innen offenbar schon. Negative Körpersprache und Ausstrahlung, heisst es aus dem Maschinenraum - stimmungsgefährdend. Dem - wie es heisst - einsichtigen Katterbach ist zuzutrauen, dass er die Degradierung als Ansporn nutzt und sich über konzentrierte Arbeit und eine modifizierte Grundhaltung wieder in den Profi-Trakt zurückkatapultiert. Die Massnahme des Trainers ist überdies allerdings auch eine glasklare Ansage an den gesamten Kader.
Polzin nimmt keine Rücksicht
Wer ausschert, wird rasiert - Namen und/oder Verdienste vergangener Tage spielen dabei keine Rolle. Uwe Seelers Enkel Levin Öztunali spürt die Auswirkungen dieser Konsequenz, seit Polzin den 190-maligen Bundesliga-Spieler im November des vergangenen Jahres in die zweite Mannschaft beordert hat. Publikumsliebling Bakery Jatta, der inzwischen nach Kanada geflüchtete ehemalige Kapitän Sebastian Schonlau oder auch Zweitliga-Torgarant Robert Glatzel - keiner der Genannten profitiert davon, dass er gemeinsam mit Polzin viel erlebt und durchgemacht hat, sich der grundsätzlichen Sympathie des Trainers absolut sicher sein kann.
Politisch gewieft wäre es jedenfalls gewesen, einen Verwandten des grössten HSV-Fussballers aller Zeiten mit Samthandschuhen anzufassen und verdiente Klub-Veteranen in Watte zu packen. Bei Polzin haben diese Parameter aber nun mal keine Bedeutung. Welches Puzzleteil passt, um die Erfolgswahrscheinlichkeit zu erhöhen - das ist die Währung, die im Trainerteam gilt. Und die eine Etage höher bei Bedarf abgesegnet wird, sofern die disziplinarischen Massnahmen den arbeitsrechtlichen Relevanz-Bereich touchieren. Da braucht es dann Prokura von Stefan Kuntz. Der Boss hat das letzte Wort bei allen Personalentscheidungen.
Prinzipien stehen auf dem Prüfstand
Diese Handlungskonsequenz muss man sich leisten können. Nach dem ersten Heimsieg und den ersten erzielten Bundesliga-Toren seit sieben Jahren ist die Gesamtlage im Volkspark für alle Verantwortlichen etwas stabiler geworden - und doch stehen Polzins Prinzipien natürlich permanent auf dem Prüfstand. Eine Niederlage bei seinem vormaligen Vorgesetzten Steffen Baumgart am kommenden Sonntag zum Beispiel würde eine vollkommen andere Lesart der Geschehnisse befeuern - reflexartig. Da sind unterschiedliche Varianten denkbar.
Für die interne Vereinshygiene wäre es aus Klubsicht vermutlich erstrebenswert, dem Kurs des Trainer-Teams zu folgen und einen Cheftrainer zu stützen, der zwar jung ist, aber seit seinen ersten Gehrversuchen als Vortänzer in der Coaching Zone expressartige Lernfähigkeit unter Beweis stellt. Bleiben die Erfolge allerdings dauerhaft aus, wird es auch im Volkspark wieder politisch(er) - das ist so sicher wie die unerbittliche Grundhaltung, die Franz-Josef Strauss Zeit seines Lebens als unerlässlich empfunden und manch einer an ihm geschätzt hat.