Ein bisschen viele Fragezeichen
Der HC Ambrì-Piotta schnupperte letzte Saison an der Qualifikation für die Playoffs – und scheiterte dramatisch. Wie gut haben Trainer Luca Cereda und sein Team diesen Schock verarbeitet? Und wer springt für den abgewanderten Topskorer Michael Spacek in die Bresche?
Eines vorweg: Es ist beeindruckend, was in der Leventina Jahr für Jahr geleistet wird. Weit weg vom pulsierenden Wirtschaftsleben oder von Menschenmassen einen Eishockeyklub in der höchsten Liga am Leben zu erhalten – es ist definitiv keine Selbstverständlichkeit, sondern eine Herkulesaufgabe, die nur dank der grosszügigen Zuwendungen der Familie Valsangiacomo (Caffè Chicco d’Oro) gelöst werden kann.
Entsprechend schwierig ist es auch, sportlich erfolgreich zu sein. In den letzten 18 Jahren haben die Tessiner nur gerade zweimal die Playoffs erreicht, das war in den Saisons 2013/14 und 2018/19 der Fall, als jeweils bereits im Viertelfinal Endstation war. Im vergangenen Winter respektive Frühling war der Sprung in die schönste Jahreszeit der Eishockeysaison nah. Das von Coach und Identifikationsfigur Luca Cereda geführte Team beendete die Regular Season auf Rang 8 und traf im Play-In auf den HC Lugano. 4:0 führten die Biancoblù im ersten Duell nach 25 Minuten – verschenkten dieses Polster aber, mussten sich am Ende mit einem 4:4 begnügen und wurden von Lugano im Rückspiel mit 3:1 bezwungen. Diese Niederlage hinterliess mentale Spuren, in der zweiten Play-In-Runde wurde Ambrì von Biel in die Ferien geschickt.
Ein traumatisches Erlebnis?
Die grosse Frage ist nun, ob sich die Spieler und der Klub in der Sommerpause von diesem Scheitern erholt haben oder ob die Erinnerung als traumatisches Erlebnis in den Köpfen hängenbleibt. Denn klar ist: Es muss beim HC Ambrì-Piotta alles zusammenstimmen, damit so oft die Siegeshymne «La Montanara» durch die Gottardo Arena hallt, dass am Ende die Viertelfinal-Qualifikation gelingt. Oder wie Trainer Cereda einst sagte: «Wir müssen über unseren Verhältnissen spielen, wenn wir Mannschaften mit grösseren Budgets hinter uns lassen wollen. Aber es ist schwierig, sieben Monate lang besser zu spielen als man eigentlich ist.»
Entscheidend sind auf diesem Weg natürlich auch die Goalies. Der Finne Janne Juvonen spielt seit zweieinhalb Jahren für die Leventiner und ist sehr solid – aber nicht so überdurchschnittlich, dass der Einsatz einer Ausländerlizenz gerechtfertigt ist. Deshalb darf man nun gespannt sein, ob Juvonen von Gilles Senn ernsthafter gefordert wird als in der Vergangenheit von Benjamin Conz, der zu Ajoie weitergezogen ist. Allerdings stellt sich die Frage, ob der zweifelsohne talentierte Oberwalliser Senn zur nötigen Konstanz findet.
Die ausländischen Marathonmänner
In der Defensive ist der HCAP auf den Finnen Jesse Virtanen und den Schweden Tim Heed angewiesen, die in der vergangenen Regular Season mit durchschnittlich 24:05 respektive 23:49 Minuten Eiszeit die Marathonmänner der Liga waren. Als breitere Abstützung wurde zudem der Kanadier Kodie Curran, der in den letzten zwei Saisons in der KHL bei Magnitogorsk und Minsk spielte, vorerst bis zur Nati-Pause im November verpflichtet. Über Potenzial verfügen auch die Talente Rocco Pezzullo (23) und Simone Terraneo (20), allerdings fehlt es den Tessinern an einer qualitativen Breite.
In der Offensive muss Ambrì nun ohne Topskorer Michael Spacek (zu Servette) und den in Kanada vor Gericht stehenden Alex Formenton auskommen. Zudem gilt es auch die 38 Skorerpunkte von Laurent Dauphin zu ersetzen, der nach Kanada in die AHL zurückgekehrt ist. Gefordert sind nun die beiden neuen kanadischen Stürmer Jonathan Ang und Philippe Maillet. Der teuflisch schnelle Läufer und feine Techniker Ang hat in der Vergangenheit schon gezeigt, was in ihm steckt, kam aber letzte Saison in Kloten nie richtig in Schwung. Und Maillet blieb zwar der Durchbruch in der NHL versagt, doch in der KHL kam er in zwei Saisons für Magnitogorsk auf immerhin 0,8 Skorerpunkte pro Spiel – das sorgt für eine gewisse Erwartungshaltung. Gleichzeitig ist es wichtig, dass die Routiniers Dario Bürgler (36) und Inti Pestoni (33) regelmässig punkten und sich andere Spieler wie André Heim und Dominic Zwerger in Hochform und als Leistungsträger präsentieren.
Prognose
Es sind ein bisschen viele Fragezeichen und Abhängigkeiten, um eine erneut so starke Saison zu erwarten wie 2023/24, als der HCAP die Qualifikation auf Rang 8 beendete und ihn nur sechs Punkte vom HCD und dem direkten Playoff-Ticket trennten. Ganz klar, ein Platz in den Top Ten muss das Ziel sein und ist auch realistisch. Und sollten sich die Leventiner in eine Euphorie spielen, ist auch mehr möglich. Zumal im Gegensatz zur letzten Saison die Zusatzbelastung mit dem Spengler Cup wegfällt. Damals gewann Ambrì im Januar von zehn Spielen nur gerade drei. Dies zeigt, wie nahe das Team an den Playoffs war.