Ex-Profi Eggimann erklärt Union Berlin
Die Berliner erstaunen nicht nur Deutschland, sondern derzeit gleich ganz Europa. Am Sonntag fordern sie im Spitzenduell den Liga-Krösus Bayern München – es ist ein Duell David gegen Goliath auf Augenhöhe zu erwarten. Wie das überhaupt möglich ist, erklärt der ehemalige Union-Profi Mario Eggimann.
Die Szene am späten Donnerstagabend war bezeichnend: Noch eine halbe Stunde nach Spielschluss des Europa-League-Rückspiels gegen Ajax Amsterdam (3:1) war die Stehrampe auf der Waldseite im Stadion an der Alten Försterei proppenvoll, unten stand Trainer Urs Fischer bei RLT zum Interview und die Fans skandierten den Namen des Schweizer Trainers. Dieser nahm die Huldigungen mit bescheidenem Lächeln entgegen. Und genau diese Bescheidenheit ist für den ehemaligen Union-Profi Mario Eggimann Markenzeichen und Erfolgsrezept: «Der Verein ist authentisch und die Fans haben einen extrem hohen Stellenwert.»
Für den Aargauer, der von 2013 bis zu seinem verletzungsbedingten Karriereende 2015 für Union spielte, geht es aber noch weiter: «Um den Verein zu verstehen, muss man in Köpenick gelebt haben. Das ist eine eigene Welt; quasi ein System im System. Man muss die Gegend, Köpenick, spüren und auch die Atmosphäre erlebt haben.» Das gegenseitige Verständnis sei sehr gross. «Union Berlin hat den Spagat geschafft, die Kommerzialisierung und Monetarisierung voranzutreiben, ohne die Fans zu verraten.» Das sei spürbar: «Jeder im Stadion ist total authentisch, aber das versteht man erst, wenn man im Stadion war und mit den Leuten gesprochen hat», so Eggimann. «Ich hielt das zuerst auch für einen Gag – bis ich dort war und es selbst erlebte.» Die Fans stünden jederzeit hinter dem Team. «Sie singen bis zur letzten Minute, auch wenn die Mannschaft 0:3 zurückliegt; das habe ich so noch nie erlebt.»
Die Beziehung zwischen dem Verein und den Fans wurde über Jahre aufgebaut und der Verein kann auf viele Unterstützer zählen. «Union Berlin ist wirtschaftlich extrem gesund und der Präsident, Dirk Zingler, agiert sehr clever», sagt Eggimann. Zingler präsidiert den Verein schon seit 2004. «Er geht sehr analytisch vor, denkt mit und hört zu, will alles wissen, um dann zu entscheiden», so der zehnfache Schweizer Nationalspieler weiter. Gleichzeitig halte er nicht stur an seiner Meinung fest. «Beispiel: Zingler war erst überzeugt, dass das englische System mit Trainer und Sportchef in Personalunion auch für Deutschland das richtige sei», erzählt Eggimann. «Dann sah er ein, dass dies nicht funktioniert, installierte er einen sportlichen Leiter und holte dafür eine Person aus dem Umfeld. Dies führte immer noch nicht zum gewünschten Resultat, also engagierte er eine externe Person und beschäftigte den bisherigen Leiter in einer anderen Funktion weiter im Verein. So passt er das System immer wieder an.»
Dass der Verein ausgerechnet mit dem urchigen Urs Fischer Erfolge feiert, dessen Bodenständigkeit beim FC Basel und beim FC Zürich ihm eher zum Handicap wurden, ist irgendwie logisch. «Fischer ist ebenfalls 100 Prozent authentisch», sagt Eggimann. «Er muss keine Geschichte erzählen oder Sprüche reissen. Dabei hat er eine Ähnlichkeit mit dem Präsidenten.» Seit 2018 ist Fischer nun der Chef in Köpenick. Schon in seiner ersten Saison stiegen die Berliner in die 1. Bundesliga auf und sorgen nun in Europa für Furore, am Donnerstag mit einem 3:1-Erfolg über den vierfachen Champions-League-Sieger Ajax Amsterdam. Im Achtelfinal der Europa League wartet nun Union Saint-Gilloise aus Belgien. In der Bundesliga fordert Union den Branchenprimus Bayern München, zuletzt zehnmal Meister de suite. Am Sonntag gastieren die Köpenicker zum Spitzenkampf in der Münchner Allianz-Arena.
«Die Erfolge überraschen alle», sagt Eggimann. «Es ist bemerkenswert, wie stabil Union in der Bundesliga geblieben ist. Es kann Höhenflüge geben, aber nach der Winterpause relativieren sich solche Erfolge oft. Union macht aber weiterhin einen stabilen Eindruck.» Der heutige Spielerberater und Gründer von Sports Transfer International ist zuversichtlich, dass Union Hertha Berlin als Nummer 1 in der Stadt auch längerfristig ablösen wird, wenn die Köpenicker dieses Level halten. Dazu passen die Ausbaupläne für das Stadion, die seit einiger Zeit in der Pipeline sind. Es soll von heute rund 22'000 Plätzen auf fast 38'000 Plätze ausgebaut werden – die Mehrzahl Stehplätze für die eingefleischten Fans. Die genauen Pläne werden noch in diesem Jahr präsentiert.
Nun steht erst einmal der Auftritt in München an. Während der FC Hollywood zuletzt mehr mit lauten Tönen ausserhalb des Rasenvierecks für Schlagzeilen sorgte, gehen die Berliner die Aufgabe mit der gewohnten Demut an. «Sie fürchten uns sicher nicht», meinte Fischer im RTL-Interview mit Blick auf das Spiel gegen Bayern München. «Wir müssen sehr gut mit unseren Kräften haushalten und besser im Spiel mit dem Ball sein. Ein zweites Mal wird das nicht gut gehen.» Aktuell sind die beiden Teams punktgleich, doch die Saisonziele könnten unterschiedlicher nicht sein. Bayern will die Champions League gewinnen, Union wollte erst den Ligaerhalt, hat das Saisonziel nach dem guten Saisonverlauf leicht nach oben korrigiert: «Wenn wir uns noch einmal für das europäische Geschäft qualifizieren, wäre das grossartig.» Sicher ist: Die Union-Fans werden ihre Mannschaft und den Trainer so oder so bis zum Schlusspfiff und darüber hinaus anfeuern und feiern.