Kann «King Küng» die Hölle des Nordes beherrschen?
Zwei Schweizer stehen im Fokus vor dem 120. Rennen Paris-Roubaix. Stefan Küng gehört zu den Topfavoriten für den Klassiker; Silvan Dillier ist der Edelhelfer von Mathieu van der Poel.
Das Rennen ist eigentlich aus der Zeit gefallen und ist wohl gerade deshalb so faszinierend – fast wie Monaco im Formel-1-Zirkus. Die Strecke ist flach wie eine Flunder, führt über 257 km vom Compiègne nach Roubaix im Norden Frankreichs. Luftlinie liegen knapp 160 km zwischen den beiden Ortschaften. Doch windet sich die Strecke, und das macht das Rennen eben zu dieser Hassliebe für fast alle Radprofis, über zahlreiche Feldwege und die gefürchteten Pavés. 29 Sektoren listen die Organisatoren für die 120. Austragung mit einer Gesamtlänge von 54,5 km. Nicht zuletzt deswegen ist Paris-Roubaix nicht nur die «Königin der Classiques», sondern eben auch die «Hölle des Nordens» und zählte zu den fünf Monumenten des Radsports (neben Mailand-Sanremo, der Flandern-Rundfahrt, Lüttich-Bastogne-Lüttich und der Lombardei-Rundfahrt).
Massensprint vor jedem Pavé-Sektor
Rund 100 km führt das Rennen über ausschliesslich Asphaltstrassen, ehe das Ausscheidungsfahren nach hinten in der Regel beginnt. Das erste Highlight ist jeweils der 2,3 km lange, schnurgerade Pavé-Abschnitt im Wald von Arenberg über ruppige Pflastersteine. Spätestens hier, rund 100 km vor dem Ziel, wird das Finale bereits eröffnet. Und entsprechend hektisch geht es im Feld vor dieser Stelle zu und her. «Wir kommen mit 60 bis 70 km/h auf einer breiten Strasse daher und müssen umgehend auf eine schmale Passage einbiegen; vor jedem Sektor gibt es quasi einen Massensprint, weil jeder vorne fahren möchte», beschreibt Stefan Küng den Wechsel von quasi Autobahn auf Feldweg. «Was davor abgeht, ist krass. Da werden die Ellbogen ausgefahren, es wird gedrängt und geflucht. Freunde hat man ausserhalb des Teams auf einmal keine mehr», so Küng gegenüber dem «Blick».
Drei 5-Sterne-Sektoren
Arenberg ist der erste von insgesamt drei Sektoren, die mit fünf Sternen ausgezeichnet sind. Die anderen sind der drei Kilometer lange Mons-en-Pévèle rund 50 km vor dem Ziel und der Carrefour de l’Arbre mit einer Länge von 2 km rund 17 km vor dem Velodrom in Roubaix. Erschwerend kommt hinzu, dass es in den letzten Tagen starken Regen gab. Immerhin sind die Wettervorhersagen für Sonntag gut.
Gewichtsnachteil ist hier ein Vorteil
Nur wenige Fahrer entwickeln eine Art Liebesbeziehung zu dieser – trotz den fehlenden Höhenmetern – äusserst selektiven Strecke. Zu ihnen gehörte Fabian Cancellara, der das Rennen dreimal gewann (2006, 2010 und 2013) und drei weitere Mal einen Podestplatz erreichte. Vor ihm war Heiri Suter 1923 der einzige Schweizer Sieger. In diesem Jahr gehört wieder ein Schweizer zu den meistgenannten Anwärtern, in Roubaix die Siegtrophäe, einen der ungeliebten Pflastersteine, in die Höhe zu strecken. Der Thurgauer Küng bewies im Vorjahr mit dem 3. Platz, dass er die Voraussetzungen für die Herausforderungen dieser Strecke mitbringt. Wie Cancellara ist Küng ein grossgewachsener Zeitfahrspezialist und gilt im Feld als «Diesel» mit einem grossen Motor. «Ich wusste, dass ich bei den Anstiegen der Flandernrundfahrt einen Nachteil hatte, da ich 15 kg mehr wiege als ein Tadej Pogacar oder ein Mathieu van der Poel», so Küng gegenüber «Le Temps». Als Sechster der Flandernrundfahrt am vergangenen Sonntag unterstrich «King Küng» seine gute Form; einzig Pogacar und van der Poel erwiesen sich in den giftigen kurzen Steigungen von Flandern als zu stark. «Ich bin ready für Roubaix», kündigte Küng im Schweizer Fernsehen an.
Chefhelfer trotz 2. Platz 2018
Gut in Form ist auch der Aargauer Silvan Dillier. Und er gehört auch zu jenen Profis, die mit Paris-Roubaix gute Erinnerungen verbinden. 2018 wurde er nach einer über 200 km langen Flucht hinter Peter Sagan Zweiter. Dilliers Problem heisst Van der Poel. Im Alpecin-Deceuninck-Team ist alles auf den niederländischen Allrounder, der auch bereits fünffacher Radquer-Weltmeister ist, ausgerichtet und Dillier ist sein Edelhelfer. Sowohl bei Mailand-Sanremo als auch zuletzt in der Flandernrundfahrt leistete Dillier im Feld wertvolle Führungsarbeit für van der Poel, der Dilliers Arbeit mit dem Sieg in Sanremo sowie dem 2. Rang in der Flandernrundfahrt veredelte.
Jumbo-Visma mit mehreren Trümpfen
Neben van der Poel gehört Wout van Aert, sein ewiger Widersacher im Gelände und auf der Strasse, zum engsten Favoritenkreis. Der Belgier war am letzten Sonntag einer der Geschlagenen und dürfte auf Revanche aus sein. Van Aert kann auf ein sehr starkes Jumbo-Visma-Team zählen; die Fahrer in Schwarz-Gelb drückten in den letzten Jahren den Rennen immer wieder den Stempel auf und haben auch den Vorjahressieger Dylan van Baarle oder den letztjährigen WM-Zweiten Christophe Laporte im Aufgebot. Viele Trümpfe können aber auch ein Nachteil sein, wenn es ui Unstimmigkeiten kommen sollte. Zumindest auf der Rechnung gilt es den zweifachen Zeitfahrweltmeister Filippo Ganna zu haben. Nach dem Wechsel van Baarles zu Jumbo-Visma ist der Italiener im starken Ineos-Team der Captain für den Pflastersteinklassiker.
Die weiteren Schweizer am Start müssen eher auf einen Coup à la Dillier 2018 setzen, falls ihnen diese Freiheiten teamtaktisch überhaupt gewährt werden. Der Tessiner Filippo Colombo aus der Schweizer Equipe Q36.5 machte bei der Flandernrundfahrt durch einen starken Auftritt in der Fluchtgruppe auf sich aufmerksam und auch Johan Jacobs, der für die spanische Movistar-Mannschaft fährt, dürfte Freiheiten haben. Routinier Michael Schär (AG2R mit Greg Van Avermaet), Alexandre Balmer (Jayco mit Zdenek Stybar), der bei Mailand-Sanremo lange in einer Fluchtgruppe war, und Fabian Lienhard, Teamkollege von Küng, müssen sich wohl in den Dienst der Kapitäne stellen.