Keine Angst vor Ronaldo!
Jahrelang versetzte er gegnerische Defensiven in Panik, gewann mit seinen Klubs Titel en masse und sammelte schier unzählbare persönliche Auszeichnungen. Doch nun schwächelt Cristiano Ronaldo – auch heute Abend um 20 Uhr gegen die Schweiz (auf Sky Sport mit SRF zwei)?
Cristiano Ronaldo polarisierte wie kaum ein anderer Fussballer, ähnlich vielleicht wie Lionel Messi, mit dem er sich einen Wettlauf um Trophäen lieferte. Wer ist besser und erfolgreicher? Es war eine Frage, die immer wieder gestellt wurde, die aber nie abschliessend beantwortet werden konnte.
Nun befindet sich CR7 im Spätherbst seiner Karriere. Seit seinem Wechsel 2018 von Real Madrid zu Juventus Turin wurde der einst fast Ausserirdische menschlicher. Der Transfer im Sommer 2021 zu Manchester United war alles andere als ein Glückstreffer. In seiner ersten Saison in der Premier League erzielte er in 30 Spielen zwar noch 18 Tore. Dann ging die Produktivität aber zurück und zuletzt war er weit von dieser Ausbeute entfernt. Ein einziges Törchen gelang ihm in der laufenden Saison in zehn Einsätzen in der Premier League, Stammspieler war er bei Manchester United längst nicht mehr, nun ist er gar unerwünscht, nachdem er in einem Interview heftige Kritik äusserte und wird den Klub nach der WM verlassen. In Richtung Saudi-Arabien, wo er, mittlerweile fussballerisch zum «Normalsterblichen» geworden, nochmals ausserirdisch abkassieren wird. Das Gesamtvolumen des Deals einschliesslich Werbeeinnahmen soll bei etwa 200 Mio. Euro pro Saison liegen!
Es ist ein gigantischer Rentenvertrag für den so ehrgeizigen Portugiesen. Aber auch er wird spüren, dass Anspruch und Realität immer weiter auseinander liegen. Ronaldo ist langsamer geworden, er ist weniger explosiv, verbreitet kaum noch Furcht und Schrecken. Statt Bewunderung kommt teilweise Mitleid auf, der Gedanke, dass da wieder ein Kicker ist, der den Zeitpunkt des Rücktritts verpasst hat.
194 Länderspiele hat er für Portugal bestritten, 118 Tore erzielt. Das letzte im WM-Startspiel gegen Ghana, per Penalty. Wenn es nach ihm geht, liegt seine Tor-Ausbeute bereits bei 119 Treffern, so sehr wollte er allen klarmachen, dass er beim Treffer von Bruno Fernandes gegen Uruguay noch mit den Haarspitzen am Ball gewesen ist und das Tor eigentlich ihm gebührt. Vergeblich. Dazu kam eine abschätzige Geste gegenüber Coach Fernando Santos bei der Auswechslung im letzten Gruppenspiel gegen Südkorea, das Portugal 1:2 verlor. «Was ich gesehen habe, hat mir nicht gefallen, überhaupt nicht gefallen. Aber die Angelegenheit wurde intern geklärt. Alle sind verfügbar und auf das Spiel am Dienstag fokussiert», sagt der Nationaltrainer.
Während Jahren war es undenkbar, dass Ronaldo bei der Nationalmannschaft nur auf der Bank sitzt. Es wäre eine Majestätsbeleidigung gewesen. Der Rückhalt ist nun aber geschwunden, und es ist möglich, dass der Superstar gegen die Schweiz am Anfang auf der Bank sitzt. In einer Umfrage der portugiesischen Sportzeitung «A Bola» sprechen sich 70 Prozent sich gegen einen Startelf-Einsatz Ronaldo aus. Auch die Journalisten gehen hart mit dem 37-Jährigen ins Gericht: Ronaldo sei aktuell zu sehr mit sich selbst und mit seiner Klubsuche beschäftigt – und zum ersten Mal sei es sehr offensichtlich, dass er sich grösser empfinde als die Gruppe, als die Nationalmannschaft.
Ob von Anfang an oder als Joker: CR7 wird gegen die Schweiz seinem Traum nachjagen: mit Portugal den WM-Titel zu gewinnen. Auf diesem Weg gibt es kein anderes Ziel, als zum vierten Mal im vierten Duell mit der Schweiz als Sieger vom Feld zu gehen. 2:0, 3:1 und 4:0 hat er in den Aufeinandertreffen mit Portugal gegen die Schweiz bisher gewonnen und dabei fünf Tore erzielt. Der Schweizer Nationaltrainer Murat Yakin verzichtet trotz dieser Bilanz auf eine spezielle Taktik, um CR7 zu stoppen und sagt: «Wir wissen, dass Ronaldo ein Spiel entscheiden kann, wir dürfen ihm keinen Raum geben. Aber eine Manndeckung wird es nicht geben.»
Im Gegensatz zum Serbien-Spiel hat der Schweizer Nati-Coach keine personellen Sorgen mehr. Yann Sommer und Nico Elvedi, die am Freitag krankheitsbedingt gefehlt haben, sind wieder fit, auch Fabian Schär hat das Abschlusstraining mitgemacht. «Ich habe die Qual der Wahl», sagt Yakin, der seine Startformation erst heute festlegt. So oder so, er hat Vertrauen in seine Mannschaft: «Sie ist bereit, reif und eingespielt und kann sich auch innerhalb eines Spiels den Umständen anpassen. Wir müssen mit Mut und Selbstvertrauen in das Spiel gehen, cool sein und die richtigen Emotionen auf den Platz bringen.»
Es bleibt zu hoffen, dass Ronaldo gegen die Schweiz das Feld heute Abend erstmals als Verlierer verlassen muss. Für die Schweizer wäre es die erste Qualifikation für einen WM-Viertelfinal seit 1954. Und für Ronaldo, den Europameister von 2016, wohl der Schlusspunkt einer ohne WM-Titel unvollendeten Nationalmannschaftskarriere. Gleichzeitig wissen wir aber auch, dass Cristiano Ronaldo nach wie vor immer für eine Prise Genialität gut ist und ein Spiel entscheiden kann.