Auch mit 33 Jahren wird Marlen Reusser noch stärker und stärker
Marlen Reusser erweist sich bei der fünfte Ausgabe der 2021 neu lancierten Tour de Suisse der Frauen von A bis Z als dominierende Fahrerin. Nun nimmt die Bernerin die ganz grossen Ziele ins Visier.
Lernen könne sie noch viel, so sagte es Marlen Reusser im Sommer 2020. Trotz ihrer damals schon 28 Jahre sah sie sich teils noch als Juniorin. "Die Automatismen greifen noch nicht immer", sagte die Bernerin, die erst mit Mitte Zwanzig ihre erste Rennlizenz gelöst hatte.
In der Disziplin Zeitfahren stiess sie dank ihres grossen "Motors" bald einmal auch international an die Spitze vor. In Etappen mit Massenstart hingegen dauerte der Aufstieg länger, weil ihr anfänglich im Feld mit den vielen Fahrerinnen um sie herum nicht wohl war. Deshalb fuhr Reusser manchmal Rennen durchwegs an der Spitze, was unnötig Kräfte kostete. Diese fehlten ihr dann im Finale.
Swiss Cycling und insbesondere auch der langjährige Nationaltrainer Edi Telser erkannte dennoch "Marlens Potenzial schnell. Doch es gibt viele Athletinnen mit Potenzial, dieses muss man dann auch umsetzen können. Marlen wollte und konnte es."
Begleitet wurde Reusser, die vor dem Einstieg in den Radrennsport zunächst ihr Medizinstudium abgeschlossen hatte und danach noch für eine gewisse Zeit als Assistenzärztin tätig war, allerdings auch immer wieder von Rückschlägen wie Stürzen oder gesundheitlichen Problemen.
Reusser kam als Quereinsteigerin in den Radsport. Weil sie nicht seit dem Juniorinnen-Alter auf dem Rad trainiert hatte und Rennen gefahren war, bestand für die Bernerin Handlungsbedarf. Bezüglich Technik, zum Beispiel in Kurven und Abfahrten. Aber auch beim Fahren in einem grösseren Feld, wo es darum ging, Reflexe zu entwickeln, um auf gewisse Situationen mit möglichst wenig Kraftverlust reagieren zu können.
Reussers Fortschritte in allen Bereichen waren auch zuletzt als Ü30-Fahrerin eklatant. Ihre Lernkurve war so steil, dass sie bezüglich Technik und auch in Abfahrten den Vergleich mit den Allerbesten nicht scheuen muss. Reusser behält auch in stressigen und potenziell rennentscheidenden Situationen kühlen Kopf, wählt intuitiv die richtige Taktik und vergeudet nicht (mehr) sinnlos Kräfte.
Stellvertretend dafür steht die Situation am Sonntag in der letzten Etappe der Tour de Suisse. Da ergriff Reusser im steilen Anstieg zum Michaelskreuz die Initiative. Sie schlug ein zwar hohes, aber ihr genehmes Tempo an - kein halbes Dutzend Fahrerinnen konnte ihr dabei folgen. "So konnte ich verhindern, dass es immer wieder Attacken gab."
In der anschliessenden Abfahrt Richtung Ziel hielt sich Reusser geschickt im Windschatten von Vollering, die Katarzyna Niewiadoma nachjagte. Genau in dem Moment, als das Duo auf die Polin auffuhr, griff Reusser in einer kurzen Gegensteigung entschlossen an - und fuhr in der Folge solo und in Zeitfahr-Manier dem Etappen- und damit auch Gesamtsieg entgegen.
"Es war eine Situation, die ich mir nicht besser hätte wünschen können", sagte Reusser nach ihrem Triumph auf der ganzen Linie mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht. Es war allerdings auch eine Situation, die sie mit ihrem taktischen Geschick herbeigeführt hatte.
Aber selbst jetzt, nach ihrem dominierenden Auftritt an der Tour de Suisse, an welcher sie sich mindestens auf Augenhöhe mit der weltbesten Rundfahrten-Spezialistin Vollering bewegte, will sich Reusser nicht zurücklehnen. Es geht in der kurzen Zeit bis zum Beginn des Giro d'Italia in ein weiteres Höhentraining. Für den Giro, ihrem persönlichen Saisonhöhepunkt, der mit einem Zeitfahren - ihrer Spezialdisziplin - beginnt, will sie nochmals eine kleine Schippe drauflegen.
Mit dabei im Engadin ist auch Edi Telser. Der Strassen-Nationaltrainer sieht bei der Athletin weiterhin Potenzial. Es geht nicht mehr wie früher um Basics, sondern eher nur noch um Details. "Das eine und andere kann man immer verbessern", so Telser, ohne aber diese Details näher auszuführen.
Die nun zweifache Tour-de-Suisse-Siegerin lässt sich gerne darauf ein. Lernen zu wollen und dadurch Fortschritte erzielen zu können, das ist bei Marlen Reusser ein kontinuierlicher Prozess. Einer, der sie zu noch Höherem führen soll. Zunächst zum Giro-Gesamtsieg, später vielleicht auch zum Triumph bei der Tour de France oder zu Olympia- oder WM-Gold.