Der Lohn für das auf die Zähne beissen
Leandro Riedi steht am US Open sensationell im Achtelfinal. Es ist der Lohn für seinen Durchhaltewillen und die Leidensfähigkeit. Das hat er mit seinem Landsmann Jérôme Kym gemeinsam.
So will keiner gewinnen. Und vielleicht am allerwenigsten Leandro Riedi. Mit schmerzverzerrtem Gesicht und Tränen, die ihm über die Wangen liefen schlich Kamil Majchrzak vom Platz. Nach nur 29 Minuten musste er am Samstag das Handtuch werfen, fast kampflos kam der Schweizer Riedi in den Achtelfinal. Aber alles andere als unverdient.
Wenn sich einer in die Gemütslage des Wimbledon-Achtelfinalisten aus Polen hineinfühlen kann, dann Leandro Riedi. Fast genau ein Jahr ist es her, dass er in der Qualifikation des US Open in der Partie gegen Jérôme Kym aufgeben musste. Die niederschmetternde Diagnose: Knieoperation, acht Monate Pause. Dabei stand der Juniorenfinalist des French Open 2020 (gegen Dominic Stricker) zu dem Zeitpunkt an der Schwelle der Top 100, aktuell ist er die Nummer 435 der Welt. Noch.
Nun schreibt der 23-jährige Zürcher in New York ein echtes Tennismärchen. Dieses Jahr klappte es mit dem Überstehen der Qualifikation. Nach dem Sieg in der 1. Runde meinte er auf die Bemerkung von Keystone-SDA, so fit habe er noch nie ausgesehen, mit einem Schmunzeln: "Während ich nicht Tennis spielen konnte, hatte ich viel Zeit, an meiner Physis zu arbeiten."
Die brauchte er, um in der 2. Runde gegen den als Nummer 19 gesetzten Francisco Cerundolo einen 0:2-Satzrückstand aufzuholen. So richtig frisch war dann in der 3. Runde gegen Majchrzak auch er nicht. Vom ersten Ballwechsel an war offensichtlich, dass nach ihren Fünfsatz-Siegen zwei Tage zuvor keiner der beiden Spieler im Vollbesitz seiner Kräfte war. "Ich hatte meine Probleme, aber ich merkte, dass seine noch grösser waren", gestand Riedi gegenüber SRF. Deshalb habe er sich gesagt: "Jetzt musst du auf die Zähne beissen."
Das zahlte sich aus. Beim Stand von 5:3 für den Schweizer musste Majchrzak das Handtuch werfen - mit einem angerissenen Rippenmuskel, wie dieser später auf Instagram ausführte. "Auf diese Weise willst du natürlich nicht gewinnen", zeigte Riedi Mitgefühl. Aber natürlich sei er happy, in der zweiten Woche eines Grand-Slam-Turniers zu sein. Besonders glücklich ist er auch, dass mit Jérôme Kym ein Leidensgenosse beim gleichen Turnier den Durchbruch schaffte.
In Wimbledon hatte sich Riedi ebenfalls für das Hauptfeld qualifiziert, als alleiniger Schweizer, und in der 1. Runde verloren. "Diesmal konnte ich mit Jérôme anstossen", verriet er. Die beiden logieren im selben Hotel in Manhattan. Auch der ein Jahr jüngere Aargauer Kym wurde in seiner Karriere immer wieder durch schwere Verletzungen zurückgeworfen und belohnte sich nun für seinen Durchhaltewillen.
Wenn Riedi auf die letzten Monate und Jahre zurückblickt, stellt er fest: "Wenn du hart arbeitest und positiv bleibst, kannst du stärker zurückkehren." Das gilt auch für Kym. Ob es ebenso für Riedi im Achtelfinal am Montag gilt, erscheint eher unwahrscheinlich. Zum einen wartet mit der Weltnummer 8 Alex de Minaur ein nochmals deutlich grösserer Brocken, zum anderen haben die bisherigen sechs Partien ihren Tribut gefordert.
Das linke Bein sei angeschlagen von den vielen Matches, gibt er zu, das sei nicht ideal. Immerhin habe er jetzt zwei Tage Zeit, sich zu erholen. Aufgeben kommt für ihn sowieso nicht in Frage. "Ich werde sicher auf dem Platz stehen", versichert er. "Es ist ein Slam, da müsste man mich ins Spital bringen, damit ich aufgebe." Die Rückkehr in die Top 170 der Weltrangliste und den mit Abstand grössten Preisgeldcheck seiner Karriere über 400'000 Dollar (vor Steuern) hat er ohnehin auf sicher.
Es ist das US Open der vielen Verletzungen. Nicht weniger als vier der sechzehn Drittrundenpartien endeten mit der Aufgabe eines der beiden Spieler. Da passt es vielleicht, dass Riedi für einmal "Verletzungsglück" hatte. Kaum einer hat es mehr verdient als er.