Deshalb verabschieden sich die Schweizerinnen erhobenen Hauptes
Die Schweiz startet mit wenig Kredit in die Heim-EM, schafft es dann aber die Massen zu begeistern. Das Nationalteam hat etwas gewonnen, das mittelfristig viel wertvoller sein kann als jede Trophäe.
Es ist ein Montagnachmittag Mitte Juni. Tatjana Haenni sitzt in ihrem Apartment in New York City und nimmt sich Zeit für ein Gespräch. Ihre Haare hat sie unter einem schwarzen Hut versteckt, schliesslich ist bei ihr noch früher Morgen. Danach will sie mit einer Session im nahegelegenen Gym in den Tag starten.
Zuerst nimmt sich die frühere Direktorin Frauenfussball im SFV aber Zeit, über Themen zu sprechen, die ihr sehr am Herzen liegen: Die Fussball-Europameisterschaft der Frauen, die ohne ihren Einsatz als Funktionärin im Verband und ihr stetes Kämpfen für Verbesserungen, ihr wiederholtes Anecken gegenüber Autoritäten und ihr unermüdliches Lobbyieren für mehr Ressourcen, mehr Visibilität und mehr Akzeptanz wohl nie in der Schweiz stattgefunden hätte. Ihren Job als Sportdirektorin in der nordamerikanischen Profiliga NWSL, den sie Ende dieses Jahres abgeben und sich eine neue Herausforderung im Fussball suchen wird.
Irgendwann schwenkt die Unterhaltung auf das Schweizer Nationalteam. Natürlich tut sie das. Schliesslich ist die Bernerin eine Expertin in dieser Thematik. Auch nach ihrem Abgang beim SFV blieb sie mit vielen Exponentinnen und Exponenten regelmässig in Kontakt. Als für die Aufstockung des SFV-Zentralvorstands zwei Frauen gesucht werden, meldet auch Haenni ihr Interesse an. Ihr Wohnort in den USA ist für die Verantwortlichen aber ein entscheidendes Kontraargument.
Schon vor Jahren hob die 58-Jährige den Mahnfinger und sagte, dass die Schweiz Gefahr laufe, den Anschluss in Europa zu verlieren. Dass Investitionen in allen möglichen Bereichen vonnöten seien, um den helvetischen Absturz ins europäische Mittelmass abzufedern. Jetzt, nach den schwachen Darbietungen in der Nations League und dem Abstieg in die Liga B sieht sie sich in ihrer Vorahnung einmal mehr bestätigt. "Die Schweiz ist keine Top-Nation mehr", sagt sie. "Das ist die Realität." Und als es darum geht, das Abschneiden des Schweizer Nationalteams an der Heim-EM zu prognostizieren, sagt sie: "Ich kann mir gut vorstellen, dass die Schweiz mit 0 Punkten ausscheidet."
Mit ihrem leichten Pessimismus ist Haenni beileibe nicht allein. Vielmehr verbalisiert sie eine Grundhaltung, die weit verbreitet ist in den Wochen vor dem Turnier in der Fussballschweiz. Dass das Schweizer Team im Oktober 2024 zuletzt ein Spiel gewonnen hat, ist ebenso wenig ermutigend wie die scheinbar stagnierende Entwicklung der Spielerinnen und das bisweilen stur erscheinende Festhalten von Trainerin Pia Sundhage an einer Spielidee, die nicht kompatibel zu sein scheint mit den Spielerinnen, die sie für dieses Nationalteam aufbietet.
Über die schwedische Welttrainerin wird im Vorfeld dieser Europameisterschaft eingehend diskutiert – an Stammtischen ebenso erregt wie in Fernsehstudios. Die beiden Expertinnen Martina Moser und Imke Wübbenhorst machen keinen Hehl daraus, dass sie nicht alle Entscheide Sundhages nachvollziehen können und dass die Schweiz wohl spätestens nach der EM mit einer neuen Trainerin an der Seitenlinie in die Zukunft gehen könnte.
Nun ist Sundhage die Trainerin, die mit der Schweiz Historisches geschafft hat. Die die Gastgeberinnen allen Unkenrufen zum Trotz erstmals in einen EM-Viertelfinal geführt hat. Als die Scheinwerfer am hellsten leuchteten, fügten sich Sundhages taktische Kniffe plötzlich zu einem funktionierenden Gesamtbild zusammen. Als der Leistungsdruck ein nie gekanntes Ausmass annahm, schossen die Schweizerinnen plötzlich späte und wichtige Tore, die ihnen in den Wochen und Monaten zuvor nie hatten gelingen wollen. Und als die Ränge in den Stadien voll und der Platz vor den Leinwänden in den Fanzonen gedrängt war, hatte das Land eine Euphoriewelle erfasst, die sich wohl die kühnsten Optimistinnen nicht zu erträumen gewagt hätten.
"Im Leben geht es darum, Geschichten zu erzählen", sagte Sundhage im Lauf der EM immer wieder. "Und die Geschichte, die die Schweiz an diesem Turnier geschrieben hat, ist schlicht fantastisch." Die Skandinavierin hatte ihre Spielerinnen immer wieder mit Erzählungen auf wichtige Partien vorbereitet. Sportkoordinator Johan Djourou nahm dabei als Bindeglied zwischen Staff und Spielerinnen eine wichtige Rolle ein. Er erzählte von damals, als die Schweizer Männer an der WM 2010 sensationell gegen Spanien gewannen, und der Staff rief den Mythos vom "Wunder von Bern" 1954 in Erinnerung.
Ein zweites Wunder von Bern in Form eines Siegs gegen die Weltmeisterinnen aus Spanien ereignete sich am späten Freitagabend zwar nicht. Gegen die Turnierfavoritinnen, die grossen Hunger auf ihren ersten EM-Titel verspüren, hätten aber wohl die meisten der 15 Teams, die den iberischen Triumph an diesem Turnier verhindern könnten, das Ende ihrer EM-Reise erlebt.
Dass das Schweizer "Sommermärchen", wie es der abtretende SFV-Präsident Dominique Blanc vor dem Viertelfinal bezeichnete, nun zu Ende ist, ist insofern bedauerlich, als dass dieses Nationalteam seit Turnierbeginn am 2. Juli ganz viele Herzen der Schweizer Bevölkerung für sich gewonnen hat, die nur zu gerne weiter mit diesem Team mitgefiebert hätten.
Allerdings ist das sportliche Abschneiden nur ein Aspekt dieses Turniers, dessen Ziel es immer war, nachhaltige Verbesserungen für den Frauenfussball zu bewirken – in der Schweiz, aber auch in ganz Europa. "Bei dieser EM geht es nicht um die Resultate", sagte Tatjana Haenni. "Es geht um eine gesellschaftliche Bewusstseinsveränderung." Will heissen: Durch dieses Turnier wird Frauenfussball in ein Licht gerückt, das er hierzulande noch nie hat geniessen können. Wenn Menschen zu Tausenden in die Stadien strömen, in den Beizen im Quartier leidenschaftlich über ein Traumtor diskutiert und hitzig über die Aufstellungen debattiert wird; wenn Kinder "Schertenleib" oder "Alexia" auf ihrem Trikot stehen haben wollen und vor einem Spiel mit ihren Eltern fleissig Pappkartons bemalen, in der Hoffnung, sich das Leibchen ihres Idols zu sichern – dann hat der Frauenfussball eine Popularität und Akzeptanz erreicht, die für den Männerfussball seit Jahrzehnten Realität ist, für Frauen aber lange ein Wunschtraum blieb.
Haennis Kritikpunkte der mangelhaften Infrastruktur, der fehlenden finanziellen Unterstützung, der machoiden Gesellschaftsstrukturen, in denen Frauen stets um Anerkennung und Gleichberechtigung kämpfen müssen – sie lassen sich auch von einem vierwöchigen Fussballfest nicht auf einen Schlag wegblasen. Aber die ganze Fussballschweiz hat gesehen, wie stark dieser Sport bewegt – egal, ob er von Männern oder Frauen ausgeübt wird. Die Schweizer Nationalspielerinnen haben gemerkt, wie sehr sie die Massen mobilisieren und eine grosse Begeisterung auslösen können.
Diese Erkenntnis kann mittelfristig viel wertvoller sein als jede Trophäe. Denn die Argumente, Frauenfussball nicht zu fördern und gleiche Bedingungen wie bei den Männern zu schaffen – sie gehen den Ewiggestrigen im Licht solcher Bilder und Erlebnisse langsam, aber sicher aus. Der SFV um den neuen Präsidenten Peter Knäbel ist gut beraten, mit einer klaren Strategie die Förderung auch nach dieser EM voranzutreiben.
Ob Pia Sundhage Teil dieser Strategie sein wird, ist offen. Die 65-Jährige ist stets bestrebt, im Moment zu leben, entsprechend wollte sie sich auch nach dem Out im EM-Viertelfinal nicht konkret zu ihrer Zukunft im SFV äussern. Gut möglich, dass die Schwedin weiterziehen wird, schliesslich war die Heim-EM ein Hauptargument für ihr Engagement in der Schweiz. Aber Sundhage hat doch ein Fundament gelegt, das die Fussballschweiz optimistisch in die Zukunft blicken lassen kann. "Die Schweiz hat eine glänzende Zukunft vor sich", sagte Sundhage einmal. Die vielen jungen Spielerinnen, die wie Sydney Schertenleib, Iman Beney und Noemi Ivelj bereits einen fixen Platz in dieser Landesauswahl haben, sind ebenso Grund für diesen Optimismus wie Naomi Luyet, die nach der ersten Vorbereitungswoche verletzungsbedingt Forfait erklären musste. Mit Leila Wandeler zeigte zudem die Überraschungsfrau im EM-Aufgebot, dass sie das ihr entgegengebrachte Vertrauen verdient hat.
Sundhage und ihre Spielerinnen haben es geschafft, Optimismus auch auf die Fans zu übertragen. Als die ganze SFV-Delegation nach der Niederlage gegen Spanien minutenlang eine Ehrenrunde dreht und diese einzigartige Atmosphäre ein letztes Mal aufsaugt, erscheint auf den Rängen ein grosses Transparent, auf dem in roten Lettern geschrieben steht: "This is just the beginning". Diese EM – sie mag für die Schweizerinnen zu Ende sein. In ein paar Jahren könnte sie jedoch als Startpunkt einer neuen Ära im europäischen Frauenfussball gesehen werden.