"Die Gefahr für Kreuzbandrisse ist bei Frauen grösser"
Zwei Spielerinnen fallen mit Kreuzbandrissen aus, weitere sind angeschlagen. Das Thema Belastungssteuerung ist im Schweizer Frauen-Nationalteam omnipräsent. Teamarzt Bertram Rieger erklärt den Umgang.
Die Sonne brennt unaufhörlich auf das Gelände des FC Abtwil-Engelburg. Auf dem Hauptfeld laufen die Sprinkleranlagen, auf dem Nebenplatz machen sich die Spielerinnen warm. Auch bei grösster Hitze geht nichts über die Verletzungsvorbeugung. Schliesslich steht in wenigen Tagen die Heim-Europameisterschaft an und damit der Höhepunkt in der Karriere der Schweizer Nationalspielerinnen. Verletzen will sich vor dem Eröffnungsspiel niemand.
Diesbezüglich in der Verantwortung steht auch Bertram Rieger. Der 45-Jährige ist seit 2019 im Schweizer Fussballverband tätig und seit 2022 als einer von drei Ärzten für die gesundheitlichen Belange des Frauen-Nationalteams zuständig. Im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA erklärt er, wie Verletzungen vorgebeugt werden können und wann die Alarmglocken schrillen.
Bertram Rieger, was steckt hinter dem Trendwort "Belastungssteuerung"?
"Darunter verstehen wir die gezielte Planung, Erfassung und Anpassung der physischen und psychischen Belastung der Spielerinnen. Mit der Belastungssteuerung beugen wir Verletzungen vor."
Welche Besonderheiten müssen dabei im Frauenfussball im Vergleich zum Männerfussball beachtet werden?
"Bei den Frauen spielen hormonelle und strukturelle Faktoren eine grosse Rolle. Wesentlich ist der Zyklus, in welchem sich die Spielerinnen befinden. Denn es ist statistisch erwiesen: Die Gefahr für Bänderverletzung, insbesondere für Kreuzbandrisse, ist bei den Frauen grösser als bei den Männern."
Welche Rolle spielt die subjektive Wahrnehmung der Spielerinnen bei der Belastungssteuerung?
"Eine zentrale. Das eigene Körpergefühl ist ein wichtiges Instrument."
Heisst: Wenn sich eine Spielerin unwohl fühlt, wird dem mehr Gewicht beigemessen als den anderen Parametern?
"Ja, aber gleichzeitig geht es nicht, ohne andere Parameter miteinzubeziehen."
Welches sind Frühwarnzeichen für eine drohende Überlastungsverletzung?
"Überbelastungsverletzungen kündigen sich schleichend an. Auch hier ist das subjektive Empfinden mittragend. Ein Indiz können Muskel- oder Sehnenschmerzen während oder nach den Einheiten sein. Wir beobachten die Spielerinnen und ihren Bewegungsablauf intensiv. Mit einem Fragebogen, den die Spielerinnen regelmässig ausfüllen müssen, messen wir die Erschöpfung. Wird dort etwas anderes angegeben, als wir mit unseren Instrumenten gemessen haben, gehen wir auf die Spielerinnen zu."
Was passiert, wenn eine Spielerin im roten Bereich ist?
"Dann müssen wir die Belastung sofort reduzieren und anpassen, im schlimmsten Fall braucht es eine Pause. Zur Hilfe nehmen wir dann nicht nur pflegerische Massnahmen - es ist auch ein Sportpsychologe da, mit dem wir zusammenarbeiten."
Mit Lara Marti und Ramona Bachmann haben sich zwei Spielerinnen in der unmittelbaren EM-Vorbereitung das Kreuzband gerissen. Ist es möglich, dass dies auf eine Überbelastung zurückzuführen ist?
"Eine berechtigte Frage. Aber man muss vorsichtig sein mit Erklärungsversuchen. Ein Kreuzbandriss ist nicht ein einzelner Moment. Es spielen viele Faktoren eine Rolle. Eine Überbelastung kann ein Mosaikstein sein - etwa durch zu wenig Regenerationszeit, hohe Spiel- und Trainingsfrequenz oder hormonelle Einflüsse. Aber entscheidend ist: Es handelt sich fast immer um multifaktorielle Ereignisse. Auch biomechanische Voraussetzungen, neuromuskuläre Kontrolle, zyklusbedingte Einflüsse oder ungünstige Spielsituationen spielen eine Rolle."
Der "Blick" berichtete, dass Pia Sundhage Spielerinnen zum Training gedrängt habe, obwohl diese angeschlagen gewesen seien und das medizinische Personal einer Spielerin zuvor explizit von einer Trainingseinheit abgeraten hatte. Was sagen Sie zu diesen Vorwürfen?
"Zu diesem Zeitpunkt war ich nicht Teil des medizinischen Teams, weshalb ich hierzu keine Stellung beziehen kann. Was ich sagen kann: Bei uns im Verband arbeiten der medizinische und technische Staff eng zusammen."
Im Fussball wird der Terminkalender immer dichter. Wann sind es zu viele Spiele? Und: Halten Männer mehr aus als Frauen?
"Der verdichtete Terminkalender stellt uns vor Herausforderungen, zumal die Kader und die Infrastruktur bei den Frauen kleiner sind. Wir müssen uns den Gegebenheiten anpassen. Ich würde nicht sagen, dass sich die Belastbarkeit von Frauen und Männern unterscheidet. Der Unterschied ist, dass es im Männerfussball viel mehr Ressourcen für die so wichtige Regeneration gibt."