Die "kleinen" Isländerinnen wollen in der Schweiz gross heraus
Das isländische Nationalteam hat sein EM-Quartier am Ufer des Thunersees eingerichtet. Vor dem Duell mit der Schweiz versprühen die Nordländerinnen viel Zuversicht, am Turnier lange dabei zu sein.
Der isländische Gruss sorgt beim Gegenüber nur für einen fragenden Blick und hochgezogene Augenbrauen, und so schiebt Agla Maria Albertsdóttir mit einem Lachen auf Englisch nach: "Ich dachte schon, dass Sie ein Schweizer sind. Die isländischen Medienschaffenden kenne ich nämlich alle. Das sind nicht so viele."
Es ist Freitagnachmittag, als das isländische Nationalteam zu Gesprächen einlädt. Und zwar nicht in irgendeinem sterilen Raum mit Tischen und Stühlen, sondern direkt bei sich, in seinem temporären Zuhause während dieser Europameisterschaft.
Vorab bei Fussballturnieren der Männer werden die Teamhotels oft grossräumig abgesperrt. Der isländische Verband hat für die EM in der Schweiz offensichtlich eine andere Vorgehensweise gewählt. Der Garten des Parkhotels Gunten am Ufer des Thunersees ist der Ort, an dem sich die isländischen Spielerinnen zwischen Trainings und Spielen erholen. Neben Liegestühlen und Sonnenschirmen stehen grosse Schachfiguren. Wer sich nicht im "königlichen Spiel" versuchen möchte, greift zum Ping-Pong- oder Badminton-Schläger, gönnt sich Erholung im Spa – oder sticht mit dem Kayak in die spiegelglatte Fläche des Sees.
Während ein paar Spielerinnen sich unter den mächtigen Bäumen im Geschicklichkeitsspiel "Kubb" messen, bei dem im Boden steckende Holzstöcke umgeworfen werden müssen, genehmigen sich nur ein paar Meter daneben ein paar Gäste einen kühlen Drink im Restaurant. Und – wie es kaum besser jeglichem Marketing und Tourismus-Ratgeber hätte entnommen werden können – legt gleich das berühmte Dampfschiff "Blümlisalp" an und tuckert dann gemächlich Richtung Thun am anderen Seeufer.
Es ist eine Oase der Ruhe, die einen fast vergessen lässt, dass das isländische Nationalteam nicht für Ferien ins Berner Oberland gekommen ist. Sondern mit der Mission, sich bei ihrer fünften EM-Teilnahme in Serie zum zweiten Mal nach 2013 für die Viertelfinals zu qualifizieren. Daran ändert auch die leicht überraschende Niederlage im Auftaktspiel gegen Finnland (0:1) nichts. "Wenn wir weiterkommen wollen, war schon vor dem Turnier klar, dass wir gegen die Schweiz gewinnen müssen", sagt Albertsdóttir. Und Sveindís Jane Jónsdóttir meint: "Wir gewinnen gegen die Schweiz, und dann holen wir auch gegen Norwegen drei Punkte."
Gerade letzteres ist ein Votum, das als überheblich ausgelegt werden könnte. Vielmehr offenbart es aber das Selbstverständnis dieses isländischen Teams. Nur gerade knapp 400'000 Menschen Leben auf Island. Ergo sind sich Isländerinnen und Isländer gewohnt, die "Kleinen" zu sein, die von anderen belächelt oder unterschätzt werden. Und sie sind sich gewohnt, die "Grossen" durch ihren Teamgeist und ihre Leidenschaft zu überraschen und ins Stolpern zu bringen: In der EM-Qualifikation besiegte das Team von Thorsteinn Halldórsson in Reykjavik Deutschland 3:0 und schloss die Gruppe nur zwei Punkte hinter dem Rekordeuropameister ab.
"Da wir so wenige sind, ist der Stolz, für Island spielen und dieses Land in Europa repräsentieren zu können, noch grösser", sagt Offensivspielerin Sandra María Jessen. Dieser Stolz, Island im europäischen Schaufenster zu sehen, ist jedoch nicht nur bei Spielerinnen ausgeprägt, sondern auch bei Fans. Für die Partie am Sonntag in Bern gegen die Schweiz werden rund 2000 Menschen von der Insel erwartet. "Und ich bin sicher, dass sie lauter sein werden als die Schweizer Fans", wirft Kommunikationschef Omar Smarason ein. Er lacht. Aber auch in ihm brennt die tiefe Überzeugung, dass sich Island wieder einmal gegen einen deutlich grösseren Gegner durchsetzen wird.
Natürlich haben die Isländerinnen die Partie der Schweiz gegen Norwegen gesehen. Und natürlich ist auch ihnen nicht entgangen, wie druckvoll das Team von Pia Sundhage vorab in der ersten Halbzeit agiert hat. "Die Schweiz ist etwas höher gestanden als in den beiden Partien in der Nations League gegen uns", sagt Jessen. "Aber wir haben einen Plan, wie wir darauf reagieren können."
0:0 und 3:3 trennten sich die Teams damals. Diesmal wird ein Punkt niemandem weiterhelfen im Bestreben, möglichst lange im Turnier zu sein. "Es ist ein Spiel um alles oder nichts", sagt denn auch Jónsdóttir, die als beste Torschützin der Qualifikation eine Hoffnungsträgerin ist. Die frühere deutsche Meisterin mit Wolfsburg, die mittlerweile in Los Angeles bei Angel City spielt, ist aber nicht nur für ihre Schnelligkeit und ihre Abschlussstärke bekannt, sondern auch als Autorin. Zwei Kinderbücher hat die 24-Jährige schon veröffentlicht. "Die Geschichte eines Mädchens in der Nationalmannschaft" und "Die Geschichte eines Mädchens im Fussball" heissen die beiden Werke übersetzt und sollen für junge Mädchen eine Inspiration sein, mit Fussballspielen anzufangen.
Von "Lia am Ball" hatte Jónsdóttir zwar noch nicht gehört. Aber als sie vom Kinderbuch erfährt, das die Schweizer Captain Lia Wälti zusammen mit ihrer Schwester Meret verfasst hat, sagt sie mit einem breiten Grinsen: "Das Spiel wird das Duell der Kinderbücher. Und wer gewinnt, hat das bessere geschrieben."