Die Schweizerinnen schweben zwischen Euphorie und Zurückhaltung
Nach dem 2:0-Sieg gegen Island stehen die Chancen der Schweiz gut, erstmals in einen EM-Viertelfinal einzuziehen. Captain Lia Wälti ist stolz - hebt aber auch den Mahnfinger.
Diesmal ist sie da. Diesmal darf sie ihre Worte in die Mikrofone diktieren - und dabei immer und immer wieder sagen, wie stolz sie auf das ist, was das Schweizer Nationalteam an diesem Abend geschafft hat.
Lia Wälti steht am späten Sonntagabend vor dem Marathontor des Wankdorfstadions und gibt Auskunft. Am Mittwoch nach der Partie gegen Norwegen (1:2) war ihr das noch verwehrt geblieben, weil sie zur Dopingkontrolle musste. Während also Athletiktrainerin Mélanie Pauli-Stoll mehrmals mit einem Palettenrolli voller Material zwischen Katakomben und Teambus hin- und herflitzt, nimmt sich der Captain Zeit, geduldig über dieses 2:0 gegen Island zu sprechen. Diesen Sieg, der die Schweizerinnen zurück in ihre Heim-EM hievt und sie in eine gute Ausgangslage bringt, als zweitplatziertes Team der Gruppe A erstmals überhaupt in einen EM-Viertelfinal einzuziehen.
"Es hat nicht so viel Spass gemacht zum Spielen wie die Partie gegen Norwegen", sagt Wälti. Weil es ein zerfahrenes Spiel gewesen sei gegen die Isländerinnen, mit vielen langen Bällen und vielen Unterbrüchen. "Aber es zählt einzig das Resultat. Es ist mir lieber, dass wir weniger gut spielen und gewinnen als umgekehrt."
Die Mittelfeldakteurin bringt damit die Essenz dieses Abends auf den Punkt: Die Schweizerinnen spielten Island nicht an die Wand. Nur selten gelang es ihnen, derart viel Druck auf das gegnerische Tor zu erzeugen wie noch gegen Norwegen. Und bei den beiden Lattentreffern der Isländerinnen stand ihnen Fortuna zur Seite. Und dennoch fielen die Tore für einmal doch noch für die SFV-Auswahl.
"Die Einwechselspielerinnen haben neuen Schwung reingebracht, damit wir uns in der zweiten Halbzeit genügend Chancen herausspielen konnten", sagt Wälti. Drei Wechsel nahm Trainerin Pia Sundhage im Laufe der Partie vor, brachte Leila Wandeler, Ana-Maria Crnogorcevic und Alayah Pilgrim. Und die Schwedin tat, was sie noch nicht so oft getan hat, seit sie im SFV an der Seitenlinie steht: Sie stellte nach einer knappen Stunde das Spielsystem um, wich von ihrem bevorzugten 3-5-2 ab und ordnete ihr Team in einem klassischen 4-4-2 an.
Es sollten Massnahmen sein, die fruchteten. Nicht nur beim erlösenden 2:0, das Pilgrim mit einem schönen Schlenzer erzielte, nachdem sie von Wandeler freigespielt worden war. Die 19-jährige Wandeler war die grosse Überraschung, als Sundhage ihr EM-Kader bekannt gab. Nun zeigte die Freiburgerin, die bei Olympique Lyon unter Vertrag steht, was sie diesem Team bringen kann: Trickreiche Dribblings, Übersicht - und eine grosse Portion Unbekümmertheit.
Wandeler steht nach der Partie nur wenige Meter neben Wälti. Auch sie nimmt sich Zeit, über das Erlebte zu sprechen. Sehr stolz, sei sie, sagt sie, schliesslich habe sie das Schweizer Trikot erst zum zweiten Mal überstreifen dürfen. "Und ein bisschen müde." Sie hat ein Lächeln auf den Lippen, das zu einem Lachen wird, als sie gefragt wird, wie das Team den Sieg gegen die Isländerinnen feiern werde. "Das verrate ich nicht", sagt Wandeler erst, und schiebt dann nach: "Wahrscheinlich werden wir in der Garderobe ein bisschen Tanzen."
Natürlich weiss auch die Viertjüngste in der Schweizer Delegation, dass jetzt zwar die ersten drei EM-Punkte eingefahren sind, aber das Ziel K.o-Phase dadurch noch nicht sichergestellt ist. Im abschliessenden Gruppenspiel am Donnerstag in Genf gegen Finnland genügt der Schweiz ein Unentschieden dafür, die Skandinavierinnen hinter sich zu lassen und die Gruppenphase als Zweite abzuschliessen. Die erfahrene Wälti will aber nichts davon wissen, zu taktieren. "Es war noch nie unsere Stärke, auf ein bestimmtes Resultat zu spielen", sagt sie. "Deshalb müssen wir alles daransetzen, dieses Spiel zu gewinnen."
Es sind Worte, welche die Emmentalerin in den nächsten Tagen wohl in irgendeiner Variation auch an ihre Teamkolleginnen richten wird. Es ist spürbar, wie Wälti nach ihrer längeren Abwesenheit aufgrund hartnäckiger Knieprobleme Verantwortung übernehmen und als Leaderin vorangehen will. Sie sagt, sie habe sich wochenlang eingeredet, dass es am 2. Juli beim Eröffnungsspiel gegen Norwegen schon irgendwie gehen werde zu spielen. Auch jetzt seien die Schmerzen nie ganz weg, beim Aufwärmen spüre sie jeden Schritt. "Aber mit Adrenalin kann man sehr viel schaffen. Ich bin froh, ist es aufgegangen."
Wälti ist sichtbar glücklich und gerührt darüber, Teil des Schweizer EM-Abenteuers sein zu können. Dreimal habe sie am Sonntag Tränen in den Augen gehabt, sagt sie: Als ihr Videos vom grossen Schweizer Fanmarsch durch die Stadt Bern bis zum Stadion geschickt wurden; als sie sah, wie viele Fans das Team empfingen, als es mit dem Bus ankam; und als schliesslich vor Anpfiff die Nationalhymne erklang. "Wir hätten uns nie erträumt, so etwas erleben zu können. Es ist unglaublich. Hoffentlich haben wir heute noch ein paar Herzen mehr erobern können."