Jubilar Kimmich und der Wandel zum Anführer von Gewinnern
Joshua Kimmich steht im Nations-League-Halbfinal gegen Portugal am Mittwoch vor dem 100. Einsatz für Deutschland. Er blickt auf "Tiefen und Höhen" zurück - und ist ein Unvollendeter im Hunderter-Klub.
Sein 100. Länderspiel betrachtet Joshua Kimmich als "grosse Ehre". Und als amtlichen Beleg dafür, "dass ich die letzten neun Jahre auf einem guten Niveau unterwegs war. Ich war immer da. Und ich habe viele Tiefen und Höhen erlebt mit dem DFB-Team". Die Tiefpunkte überwiegen wohl.
Seine grosse Sehnsucht als Nationalspieler erfüllt sich freilich nicht mit dem Aufstieg in den erlauchten Hunderter-Klub, der von Lothar Matthäus (150 Einsätze) als DFB-Rekordspieler angeführt wird. Da fehlt Kimmich noch etwas ganz Entscheidendes: der grosse Titel mit dem Nationalteam.
Diese Woche mit dem Nations-League-Finalturnier und dem Jubiläumsspiel am Mittwoch gegen Portugal in seinem Heimstadion in München ist für Kimmich aber auch beim Titel-Thema eine verheissungsvolle. "Wir haben zumindest die Chance, einen kleinen Titel zu gewinnen", sagt der 30-Jährige, der seit fast einem Jahrzehnt zum festen DFB-Inventar zählt.
Am Ende seiner Premieren-Saison als Captain könnte Kimmich am Sonntag wiederum in der Allianz Arena nach Länderspiel Nummer 101 und einem Final gegen Spanien oder Frankreich die Sieger-Trophäe überreicht bekommen. Und das ein Jahr vor der WM in den USA, Kanada und Mexiko, die er längst ins Visier genommen hat. "Die Vorbereitung startet nicht zwei Wochen vorher. Die hat schon gestartet."
Auf einem guten Weg war Kimmich mit der Nationalelf lediglich in der Anfangszeit nach dem missglückten Debüt im Mai 2016 in Augsburg gegen die Slowakei (1:3) bei der anschliessenden EM in Frankreich mit dem unglücklichen Halbfinal-Aus sowie dem Gewinn des Confederations Cups ein Jahr später in Russland.
Im Abwärtssog danach wurde er mit den vermurksten Turnieren von der WM 2018 über die EM 2021 bis zum erneuten Vorrunden-Aus bei der WM 2022 quasi zum Gesicht einer Verlierer-Generation. "Gerade die Weltmeisterschaften waren nicht erfolgreich", sinnierte Kimmich am Montag, als er im Quartier in Herzogenaurach gereift und gar nicht verbissen über seine DFB-Zeit sprach.
Als er das Länderspiel nennen sollte, an das er als Erstes denke, nannte er übrigens das dramatische Viertelfinal-Aus gegen Spanien bei der Heim-EM vor einem Jahr. "Das ist noch sehr präsent." Kommt es am Sonntag zur Revanche?
Ein Anführer wie Kimmich muss(te) damit leben, dass er kritischer beäugt wird als ein Mitläufer, der sich im Hintergrund verkriecht. Kimmichs grosser Ehrgeiz gilt als Verbissenheit, wenns nicht läuft. Im Erfolgsfall ist der Bayern-Profi für alle das Vorbild. Ob er als Sechser im Mittelfeld oder als rechter Verteidiger besser ist, darüber ist jahrelang heftig debattiert und gestritten worden.
Jetzt, nach der Ernennung zum Captain durch Julian Nagelsmann, ist Kimmich der reihum anerkannte Anführer eines DFB-Wandels. Eines Wandels zu einem neuen Gewinner-Team, dem die Fans wieder zujubeln. "Wir haben es bei der EM gespürt, dass wir auch ohne Titelgewinn dafür gesorgt haben, dass wir wieder eine Verbindung zwischen Mannschaft und Land herstellen konnten", sagt Kimmich stolz. Die Nationalelf entfache wieder "positive Gefühle".
Im innersten DFB-Zirkel geniesst er höchste Wertschätzung. Marc-André ter Stegen nennt den langjährigen Teamkollegen "phänomenal". Die Beförderung zum Captain war für den Goalie logisch. "Jo war immer eine Führungsperson. Er ist in der Hierarchie immer ein Stück hochgerutscht. Es war der natürliche Weg. Er hat so viel für Fussball-Deutschland gegeben."
Trotzdem: Sportlich ist Kimmich ein Unvollendeter. Als 14. DFB-Akteur erreicht er nun die 100-Spiele-Marke - aber er ist (vorerst?) der Einzige in diesem Kreis ohne WM-Titel. Sportdirektor Rudi Völler beruhigt: "Joshua ist immer noch jung genug, um grosse Titel zu gewinnen. Lothar (Matthäus) und ich haben unseren grossen Titel auch erst mit 30 gewonnen bei der WM 1990. Er hat also noch Zeit." 2026 mit dann 31 Jahren? Oder 2030 mit 35? Vielleicht 2034 mit 39? "Da sind noch ein paar Chancen da", antwortet Kimmich mit einem Lächeln.
Immerhin wird Gegner Portugal vom inzwischen 40-jährigen Cristiano Ronaldo angeführt, der in München vor dem 220. Länderspiel steht. "Das ist schon noch ein Stück weit weg, eine krasse Zahl", bemerkt Kimmich. Übrigens: Weltmeister ist Ronaldo auch noch nicht geworden.