Kampf um die Nummer 1 doch noch einmal spannend
Jannik Sinner erhält unverhofft die Möglichkeit, Carlos Alcaraz an den ATP Finals zuhause in Turin noch von der Spitze der Weltrangliste zu verdrängen. Einiges spricht für den Italiener.
So schnell kann es gehen. Noch vor zwei Wochen wurde Jannik Sinner von ehemaligen Grössen und den italienischen Medien harsch kritisiert, weil er sich erfrechte, auf den Davis-Cup-Final von übernächster Woche in Bologna zu verzichten. Die Fans nehmen ihm dies aber scheinbar nicht übel.
Als Sinner am Mittwoch erstmals auf den Court im PalaOlimpico von Turin tritt, sind die Zuschauerränge prall gefüllt. Der Südtiroler wird mit tosendem Applaus begrüsst, als er mit seinen bewährten Coaches Simone Vagnozzi und Darren Cahill zum Training schreitet. Die Wogen haben sich längst wieder geglättet.
Nachdem Sinner beim TV-Sender Sky erklärt hatte, er sei "stolz, Italiener zu sein", eilte ihm diese Woche selbst der italienische Sport- und Jugendminister zu Hilfe. Gegenüber der Nachrichtenagentur Ansa erklärte Andrea Abodi: "Wenn man die Herkunft Sinners kennt und weiss, welche Sensibilitäten und kulturellen Unterschiede es da gibt, ist eine solche Erklärung für mich sogar noch mehr wert."
Geändert hat sich für Sinner auch die Ausgangslage an den ATP Finals. Noch vor dem Start des Masters-1000-Turniers in Paris zu Beginn der letzten Woche hatte der 24-jährige ehemalige Skifahrer aus dem Touristenort Sexten erklärt, die Nummer 1 am Ende des Jahres zu erobern, sei kein Ziel mehr, weil aussichtslos. Dann verlor Carlos Alcaraz in Paris gleich zum Auftakt, Sinner gewann das Turnier und ist seit Montag tatsächlich wieder die Nummer 1.
Diese wird er zum Start der ATP Finals am Sonntag wieder verlieren, weil die Punkte von seinem Sieg im letzten Jahr schon vor dem aktuellen Turnier aus der Wertung gestrichen werden. Dennoch ist die Rückeroberung des Throns nicht mehr so unrealistisch.
Sinner braucht dafür allerdings Schützenhilfe. Er hat in diesem Jahr bisher 1050 Punkte weniger gewonnen als Alcaraz. Er muss seinen Titel verteidigen, wenn er eine Chance haben will. Tut er dies ungeschlagen, gibt es 1500 Punkte, verliert er eines seiner Vorrundenspiele deren 1300. Sein spanischer Konkurrent braucht also 500 Zähler, um sich seiner Sache sicher sein zu können. Dass schafft er, wenn er alle drei Vorrundenspiele der Gruppe Jimmy Connors gegen Novak Djokovic, Taylor Fritz und Alex de Minaur gewinnt (je 200 Punkte). Oder auch, wenn er nur zwei davon für sich entscheidet und dann auch den Halbfinal (400 Punkte). Djokovic, der diese Woche noch in Athen im Einsatz steht, hat allerdings noch keine feste Zusage gegeben, dass er in Turin überhaupt antreten wird.
Sinner wäre der erste Spieler seit Novak Djokovic (2021 und 2022), der zwei Jahre in Folge die Nummer 1 am Ende des Jahres wäre - und das, obwohl er von Februar bis April drei Monate wegen einer Dopingsperre verpasste. Alcaraz und er teilten auch die Siege an den vier Grand Slams unter sich auf und lieferten sich fast während des ganzen Jahres ein Kopf-an-Kopf-Rennen.
Den Kopf verdrehen lasen will sich Sinner von den Rechenspielen aber nicht. "Ich nehme Tag für Tag", erklärte er nach seinem Finalsieg in Paris. "Ich konzentriere mich darauf, bestmöglich zu spielen. Das werde ich auch in Turin tun."
Die Form spricht definitiv für Sinner, der im letzten Jahr in Turin auf dem Weg zum Sieg nur 33 Games verlor, so wenige wie nie zuvor ein Spieler in der Geschichte des Jahresend-Turniers der besten acht. Alcaraz hat sich zum vierten Mal für die ATP Finals qualifiziert, macht aber im Herbst nach einer kräftezehrenden Saison jeweils einen ausgelaugten Eindruck. 2022 verzichtete er auf die Teilnahme, 2023 scheiterte er im Halbfinal klar an Djokovic, vor einem Jahr schied er in der Vorrunde aus. Nie hätte er die Punkte geholt, die er nun braucht, um die Nummer 1 sicher zu behalten.