Léon Marchand ist nicht von dieser Welt
Léon Marchand ist ein Phänomen. Das unterstreicht der Fabel-Weltrekord über 200 m Lagen. Doch was macht den Franzosen so aussergewöhnlich?
Léon Marchand kann es nicht fassen, als er nach dem Halbfinal über 200 m Lagen die Zeit sieht: 1:52,69 Minuten. Damit unterbot er den 14 Jahre alten Weltrekord von Ryan Lochte um sagenhafte 1,31 Sekunden. Der australische TV-Experte Mat Thompson sagte danach: "Das ist ein Weltrekord, wie wir ihn noch nie gesehen haben."
Im Final am Donnerstag blieb Marchand dann mit 1:53,68 Minuten erneut unter der alten Bestmarke, wobei er vom Amerikaner Shaine Casas (1:54,30) hart gefordert wurde. Dabei prasselte einiges auf den 23-jährigen Franzosen ein, nachdem er im vergangenen Jahr in Paris in seiner Heimat mit vier Gold- und einer Bronzemedaille der grosse Abräumer der Olympischen Spiele gewesen war. Er triumphierte am gleichen Abend über 200 m Delfin und 200 m Brust, also in zwei Disziplinen, in denen die Beinbewegungen völlig gegensätzlich sind. Dafür gibt es keine Worte.
"Mein Leben in Frankreich hat sich sehr verändert", sagte Marchand im Rahmen einer Pressekonferenz in Singapur. "Ich muss alles planen. Ich kann nicht einfach losgehen und Brot kaufen oder so. Aber ich habe mich daran gewöhnt. Ich kann nun besser damit umgehen." Er hat auch gelernt, Nein zu sagen.
Zwar startete Marchand nach den Olympischen Spielen an den drei Weltcup-Stationen in Schanghai, Incheon und Singapur - in Singapur brach er schon den Weltrekord über 200 m Lagen im 25-m-Becken. Für die Kurzbahn-WM im Dezember in Budapest war er dann allerdings zu erschöpft. Es gab eine Phase, "in der ich am Morgen nicht wirklich aufstehen wollte, um zum Training zu gehen. Ich war etwas müder als sonst."
Im Januar reiste er für drei Monate nach Australien. Dort nahm er sich auch Zeit für anderes. Er bereiste das Land, surfte viel. "Es war eine grossartige Zeit", so Marchand. Das Training bestritt er in der Gruppe von Dean Boxall. "Es war der richtige Moment, das zu tun. Ich lernte viel über mich." Zudem erhielt er gute Inputs, um sich in der Disziplin Crawl zu verbessern. Das Feuer fürs Schwimmen kehrte rasch zurück. Nach der Zeit in Australien ging er wieder in die USA zu seinem Trainer Bob Bowman, dem langjährigen Coach von Michael Phelps, dem erfolgreichsten Schwimmer aller Zeiten, mit dem er oft verglichen wird.
Doch was macht Marchand so aussergewöhnlich? Obwohl seine Eltern ebenfalls gute Schwimmer waren und an Olympischen Spielen teilnahmen, hörte er im Alter von sieben für zwei Jahre mit Schwimmen auf, weil ihm das Wasser zu kalt war. Als Kind probierte er auch Judo und Rugby aus. Doch letztendlich war es doch das Schwimmen, das ihn am meisten faszinierte, was sich als Glücksfall entpuppte.
Allerdings war Marchand zunächst alles andere als aussergewöhnlich. An den Junioren-Weltmeisterschaften 2019 gewann er "bloss" Bronze über 400 m Lagen, und an den Junioren-Europameisterschaften im gleichen Jahr kam er nicht über zweimal Bronze (200 m Brust und 400 m Lagen) hinaus. Seinen ersten von mittlerweile sechs WM-Titeln gewann er 2022 in Budapest.
Der 1,87 m grosse Marchand war körperlich ein Spätentwickler. Wohl auch deshalb ist er in der Unterwasserphase so gut wie kein anderer. Beim Olympiasieg über 400 m Lagen verbrachte er 100 m unter Wasser, etwa einen Fünftel mehr als seine Gegner. Zudem hat er eine extrem effiziente Körperhaltung im Wasser, was dazu führt, dass er sehr wenig Widerstand erzeugt und dadurch viel Energie spart. Auch seine Arbeitsmoral ist aussergewöhnlich.
Marchand schwimmt in Singapur im Einzel nur noch am Sonntag über 400 m Lagen, über die er an der WM 2023 in Fukuoka den 15 Jahre alten Weltrekord von Michael Phelps um 1,34 Sekunden ausgelöscht hat. "Es ist für mich ein Übergangsjahr. Deshalb wollte ich einen weniger anstrengenden Zeitplan als sonst", begründete Marchand sein Programm. Bei jemandem, der in einem Übergangsjahr zu solchen Leistungen fähig ist, stellt sich unweigerlich die Frage, wo die Grenzen liegen. Marchand dürfte noch für viele Schlagzeilen sorgen.