Madeleine Boll - die Pionierin und Türöffnerin
Sie hat Geschichte geschrieben, ist eine Pionierin des Frauenfussballs und eine Türöffnerin für die heutigen Nationalspielerinnen: Madeleine Boll, die erste lizenzierte Fussballerin der Schweiz.
Granges, ein Dorfteil von Siders im Walliser Rhonetal, unweit von Sion. An den Südhängen reifen Trauben, die Ebene ist geprägt vom Ackerbau. Hier, unweit der Sprachgrenze zwischen Ober- und Unterwallis, ist Madeleine Boll aufgewachsen. Hier hat sie den Fussball spielen und lieben gelernt. Noch heute lebt die bald 72-Jährige in der Gemeinde. Und hat entsprechend aus nächster Nähe miterlebt, wie das nur einen Steinwurf entfernte Bergdorf Blatten in den letzten Wochen Schlagzeilen über die Landesgrenzen hinaus geschrieben hat.
60 Jahre ist es her, seit Boll selbst für mediales Aufsehen gesorgt hat - und dies nicht nur im "Walliser Bote" und im "Nouvelliste". "In Italien und Schweden wurde über mich berichtet, sogar in Venezuela und Gabun gab es Zeitungsartikel", sagt sie. Und das alles nur, weil sie Fussball gespielt hatte.
Nun sitzt Madeleine Boll in einem Café im HB Zürich. Wer zur Begrüssung den feinen Händedruck einer älteren Frau erwartet, wird überrascht. Es gibt einen festen Handschlag wie vor dem Anpfiff eines Fussballspiels. Bolls Auftreten ist nicht gespielt, sie ist so - momentan ein wenig gestresst, eben eine gefragte Person im Vorfeld der Europameisterschaft. Ein Termin jagt den nächsten. Doch die Pionierin des Frauenfussballs, die Türöffnerin für die heutigen Stars des Nationalteams, nimmt sich trotzdem Zeit, um jene Geschichte zu erzählen, die sie weltberühmt gemacht hat.
Die Geschichte beginnt am 8. Juli 1953. Madeleine wird als zweites von drei Kindern der Familie Boll geboren. Der ältere Bruder spielt Fussball, ihm eifert die kleine Schwester nach. Er steht im Tor, auf das sie die Bälle schiesst. Die kleine Madeleine hat Talent, ist in jeder freien Minute auf dem Fussballplatz anzutreffen. Als einziges Mädchen. "Für die Leute aus meinem Dorf war das normal, sie haben mich so aufwachsen sehen."
Fussballspielen ist zu dieser Zeit dem "starken Geschlecht" vorbehalten. Zu gross ist die Verletzungsgefahr für die zerbrechlichen Mädchen - so nicht nur der Tenor in der Bevölkerung, sondern auch ein Artikel in den Statuten des Schweizerischen Fussballverbandes. Doch davon lässt sich Madeleine, die von allen "Modo" genannt wird, nicht abschrecken.
Als sich ihr Schulfreund Gilbert dem FC Sion anschliesst, drängt Madeleine darauf, es ihm gleichzutun. Der Trainer willigt überraschend ein. Die Linksfüsserin spielt vor und überzeugt so sehr, dass sie eine offizielle Lizenz erhält. Als erste weibliche Person in der Schweiz. Einige Tage später spielt der FC Sion im Europacup der Cupsieger. Das 5:1 gegen Galatasaray Istanbul verkommt aber fast zur Randnotiz. Schliesslich ist den Reportern nicht entgangen, dass im Vorfeld beim Spiel zweier Juniorenteams des FC Sion ein Mädchen auf dem Platz gestanden hat.
Das Geraune auf den Rängen ist gross, das Geraschel im damaligen Blätterwald am nächsten Tag laut. "Kein Erdteil, in dem nicht über mich geschrieben wurde", sagt Boll. Dass sie eine Pionierin ist, ist ihr zum damaligen Zeitpunkt noch nicht klar. Heute sagt sie: "Das war der Anfang meiner Geschichte."
Doch die Episode hat eine Kehrseite. Der SFV bricht unter dem Druck der Berichterstattung ein, entzieht Boll die Lizenz und begründet dies damit, dass bei der Ausstellung ein Formfehler vorgelegen habe. In der Folge spielt Boll bei Schülerturnieren in Lausanne, wo keine Lizenz nötig ist. Bis ein Anruf aus dem Tessin ihre Karriere neu lanciert. "Ein Anwalt meldete sich und berichtete von Interesse aus Italien. Die haben den Artikel vom Fussball spielenden Mädchen aus dem Wallis nicht vergessen", sagt sie und lacht.
1970, im Jahr, in dem die Schweizer Damenfussball-Liga unter Präsident Jean Boll (Vater von Madeleine) aus der Taufe gehoben wird und in welchem Madeleine just an ihrem 17. Geburtstag das erste Länderspiel der Schweizer Frauen-Nati gegen Italien bestreitet, wechselt die Walliserin ins Ausland. Sie schliesst sich dem Mailänder Klub Associazione Calcio Femminile Gommagomma Meda an. Die noch nicht volljährige Frau bleibt im Wallis wohnhaft und pendelt zu den Spielen nach Norditalien. Fünf Jahre zieht sie das durch. Dann beendet sie das Abenteuer. "Die Reiserei wurde mir irgendwann zu viel. Es war eine schöne, aber auch strenge Zeit."
Boll kehrt ins Wallis zurück und spielt fortan beim DFC Sion, mit dem sie 1976 und 1977 das Double gewinnt, ehe sie im Alter von nur 25 Jahren die Fussballschuhe an den Nagel hängt. "In Italien war das Niveau hoch. In der Schweiz spielten viele Juniorinnen bei den Frauen-Teams, weil es noch keine Nachwuchsabteilungen gab. Das war auf Dauer wenig reizvoll", begründet sie. Ausserdem macht sie eine Ausbildung zur Sozialarbeiterin - da bleibt keine Zeit für Fussball.
Dem Fussball bleibt sie dennoch treu. Als Zuschauerin, vor allem aber als treibende Kraft. Erst als Funktionärin im Walliser Verband, später auch im SFV, setzt sie sich vornehmlich für den Frauenfussball ein. Unerschrocken, stark und loyal - so wie der Bernhardinerwelpe "Maddli", das EM-Maskottchen, das nach der Pionierin benannt ist. "Die Entwicklung der letzten Jahre stimmt mich zuversichtlich. Ich bin mir sicher, dass die EM für einen Boom im Schweizer Frauen- und Mädchenfussball sorgt."
Bleibt zum Schluss die Frage, was Madeleine Boll fühlt, wenn sie heute Mädchen Fussball spielen sieht. "Mir geht das Herz auf", sagt sie - und ihre Augen leuchten mehr denn je seit Beginn des Gesprächs. "Sie können heute alles erreichen." Auch dank ihr, der Pionierin und Türöffnerin.