Riola und Viola zwischen Drama und Heldenepos
Mit ihrem späten Tor zum Schweizer Viertelfinal-Einzug sorgt Riola Xhemaili für Ekstase in der Fussballschweiz. Viola Calligaris ist ihrer Teamkollegin besonders dankbar.
Riola Xhemaili kommt als erste in die Garage gleich ausserhalb des Stade de Genève, die für diese Europameisterschaft zur Begegnungszone für Medienschaffende und Spielerinnen umfunktioniert worden ist. Natürlich sie, die grosse Heldin des Abends, die der Schweiz mit ihrem Treffer in der Nachspielzeit gegen Finnland das Weiterkommen in diesem Turnier gesichert hat.
Ihr Puls sei sicher auf 200 hochgeschossen, als sie den Schuss von Géraldine Reuteler ins Tor der Finninnen abgelenkt habe, sagt die Solothurnerin, ehe sie mit einem Kraftausdruck verstärkt die bangen Sekunden beschreibt, als sie befürchtete, die Videoschiedsrichter würden den Schweizer Glücksmoment wieder jäh zerstören.
Das Adrenalin pumpt auch in den Minuten nach dem Schlusspfiff noch bei der 22-Jährigen. "Wir wollten einfach unbedingt in diesen Viertelfinal", sagt sie – auch da mit eher nicht zitierfähigem Zusatz.
Xhemaili war in den letzten Monaten nicht immer Teil des Nationalteams. Dass sie trotz starken Leistungen bei der PSV Eindhoven nicht für die Landesauswahl berücksichtigt wurde, stiess im Umfeld des SFV nicht überall auf Verständnis, und es schien, als ob sich Xhemaili ungeachtet ihrer Leistungen im Klub in der Gunst von Pia Sundhage nicht nach oben spielen könnte.
Doch dann steht sie plötzlich sowohl im letzten Testspiel gegen Tschechien (4:1) als auch zum EM-Auftakt gegen Norwegen (1:2) in der Startformation und scheint neben Géraldine Reuteler zur grossen offensiven Hoffnungsträgerin geworden zu sein. In der zweiten EM-Partie gegen Island setzt die Nationaltrainerin jedoch dann wieder auf andere, und weil die Schweiz so zu einem eminent wichtigen 2:0-Sieg kommt, scheint es plötzlich wieder gut möglich, dass Xhemailis Zeit auf der diesjährigen EM-Bühne abgelaufen ist.
Als am Donnerstagabend die 82. Spielminute angebrochen ist und die Nervosität auf den Rängen von Sekunde zu Sekunde zunimmt, steht Xhemaili aber wieder an der Seitenlinie. Sie und Alisha Lehmann sind die letzten Trümpfe, die Sundhage in diese Partie wirft. Und keine zehn Minuten später ist aus der Spielerin, die vermeintlich nicht mehr ins System passen soll, die grosse Heldin geworden, die den Schweizer EM-Traum weitergehen lässt.
"Ich muss immer bereit sein, auch wenn ich mal nicht spiele", sagt Xhemaili. "Genau für solche Situationen komme ich rein. Aber im Moment kann ich noch gar nicht richtig realisieren, was passiert ist." Trainerin Sundhage sagt, Xhemaili habe gut darauf reagiert, nachdem sie gegen Island nicht berücksichtigt worden war. Sie habe gut trainiert. "Im Training schiesst Rio viele Tore", sagt die Schwedin. "Und diejenigen, die Tore schiessen, müssen auf dem Feld stehen."
Sundhage kann diesen Satz aus einer Position der Stärke sagen. Als Trainerin, die einmal mehr ein goldenes Händchen bewiesen hat darin, ihrem Team im Laufe einer Partie die richtigen Impulse zu geben. Schliesslich geht sie nun als die Trainerin in der Annalen ein, welche die Schweiz erstmals in die K.o-Phase einer EM geführt hat.
Diese Geschichte hätte aber auch eine werden können, in der die Protagonistin keine Heldin, sondern vielmehr tragische Figur ist. Wenige Meter neben Xhemaili steht Viola Calligaris. Die Verteidigerin verschuldete gegen die Finninnen in der 77. Minute mit einem ungeschickten Beinstellen den Penalty, der das Ende des Schweizer EM-Abenteuers hätte bedeuten können. "Ich bin Rio unglaublich dankbar für dieses Tor", sagt Calligaris, ehe sie ihre Teamkollegin umarmt. Nicht einmal mehr vor Freude schreien habe sie können, sagt die 29-Jährige. "Ich war einfach leer – und unglaublich glücklich."
Die Erleichterung der Obwaldnerin ist in ihren Worten spürbar. Auch deshalb, weil sie in der ersten Halbzeit eine vorzügliche Tormöglichkeit mit einem missglückten Seitfallzieher ausliess, der die Partie schon viel früher in die für die Schweiz gewünschten Bahnen hätte lenken können. "Ja, den muss ich machen", sagt Calligaris selbstkritisch. "Ich hätte den Ball mit dem Kopf nehmen sollen."
Es ist eine Szene, der dank des späten Schweizer Treffers keinerlei Beachtung mehr geschenkt werden muss, wobei Calligaris sagt, ihr seien phasenweise während des Spiels schon mögliche Schlagzeilen durch den Kopf geschossen. "Calligaris enttäuscht eine ganze Nation", zum Beispiel.
Doch wenn sie in den nächsten Tagen eine Zeitung aufschlagen wird, wird sie sehen, wie diese Nation vielmehr stolz darauf ist, was das Nationalteam an diesem Turnier bis anhin geleistet hat. Am Freitag in einer Woche steht der Viertelfinal an. Calligaris sagt: "Wir haben von Anfang an gesagt, wir wollen Geschichte schreiben. Wir werden alles dafür tun, dass sie weitergeht."