"Thun ist das beste Argument gegen Aktionismus im Fussball"
Marc Schneider hat den FC Vaduz zurück an die Spitze der Challenge League geführt. Im Interview ordnet der Berner Euphorie und Erwartungen ein und zieht Parallelen zu seinem früheren Klub FC Thun.
Marc Schneider steht mit dem FC Vaduz an der Ranglistenspitze der Challenge League. Der gebürtige Thuner ist mit seiner Familie nach Trübbach an die Schweizer Grenze zu Liechtenstein umgesiedelt. In gut anderthalb Jahren im Ländle hat der 45-Jährige den FCV als Trainer vom Tabellenkeller zurück in den Kampf um den Aufstieg geführt.
Im Interview mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA spricht Schneider über Euphorie und Zurückhaltung, über Parallelen zu seinem Ex-Klub Thun und er sagt, weshalb sich für ihn trotz Vorgeschichte kein Kreis schliessen würde, sollte der Aufstieg mit den Vaduzern gelingen.
Marc Schneider, die Heimat im Berner Oberland ist für Sie seit gut anderthalb Jahren ziemlich weit weg. Wie kam das Engagement beim FC Vaduz überhaupt zustande?
"In unserem Job ist es ein Privileg, überhaupt arbeiten zu dürfen. In der Schweiz gibt es zwölf Klubs in der Super League und zehn in der Challenge League - die Auswahl ist also sehr begrenzt. Am Ende ist es eine reine Frage des Timings. Der Kontakt zu Sportchef Franz Burgmeier bestand schon länger. Als Vaduz dann Bedarf hatte, war ich frei und hatte ein unheimlich grosses Bedürfnis, wieder an der Seitenlinie zu stehen. Da spielt die Distanz für mich keine Rolle mehr. Viel entscheidender sind die Leute und die Idee."
Bevor Sie in Vaduz unterschrieben, waren Sie nach Ihrer Zeit bei Greuther Fürth fast anderthalb Jahre ohne Anstellung. Wie haben Sie diese Phase erlebt?
"Dass es dann fast anderthalb Jahre gedauert hat, war nicht geplant, aber ich habe die Zeit rückblickend sehr sinnvoll genutzt. Vor allem für die Familie war es ein Geschenk. Ich konnte mal mit den Kindern in die Ferien, was man als Trainer sonst nie kann. Ich habe viele Freunde getroffen, habe andere Vereine besucht und über den Tellerrand geblickt. Ich habe es genossen, für eine gewisse Zeit nicht jedes Wochenende diesen Druck zu verspüren. Aber dann kommt der Punkt, an dem man merkt: Ich brauche das wieder. Ich wollte wieder liefern, ich wollte diese Anspannung am Wochenende spüren. Deshalb bin ich froh, dass ich diese Möglichkeit hier bekommen habe."
Sie haben die Mannschaft auf Platz 8 übernommen, jetzt kämpfen Sie um die Tabellenführung. Wie haben Sie das geschafft?
"Am Anfang ging es primär darum, uns stabil von den hinteren Tabellenplätzen zu entfernen. Das hat schnell funktioniert, wir wurden im Sommer sogar noch Dritter, auch wenn der punktemässige Abstand zu den ersten beiden Plätzen damals riesig war. Der eigentliche Prozess fand dann im letzten Sommer statt. Wir hatten einen grossen Umbruch. Jetzt haben wir ein Kader zusammen, von dem wir sagen: Das passt. Wir spielen einen sehr dominanten Fussball mit viel Ballbesitz. Die Jungs setzen das unheimlich gut um und belohnen sich im Moment mit den entsprechenden Resultaten."
Aarau ist punktgleich. Wie erleben Sie diesen Zweikampf um den Aufstieg? Am Freitag kommt es im Rheinpark Stadion zum Direktduell.
"Wir müssen unseren Job machen, unabhängig davon, was auf den anderen Plätzen passiert. Früher, als ich noch ein jüngerer Trainer war, habe ich oft auch auf die direkten Konkurrenten geschaut. Damit habe ich komplett aufgehört. Das sind Faktoren, die ich nicht beeinflussen kann. Für uns ist am Freitag ein Spiel wie jedes andere auch. Natürlich ist es ein wichtiges gegen einen direkten Konkurrenten, aber das Spiel letzte Woche in Rapperswil war genauso wichtig. Ich versuche den Spielern diesen Pragmatismus mitzugeben: Wir dürfen das nicht überbewerten. Die grosse Kunst bei Mannschaften, die am Ende etwas gewinnen wollen, ist die Konstanz."
In früheren Jahren galt Vaduz als "Liftmannschaft", die nach einem Aufstieg postwendend wieder abstieg. Trauen Sie dem aktuellen Projekt zu, sich nachhaltig in der Super League zu etablieren?
"Diese Frage ist noch weit weg. Aber klar, die Geschichte des Vereins zeigt, dass Kontinuität in der obersten Spielklasse die grösste Herausforderung ist. Um das nachhaltig zu schaffen, wäre entscheidend, den Kern der Mannschaft zusammenzuhalten und punktuell zu verstärken, ohne die Identität zu verlieren. Aber zuerst müssen wir überhaupt dorthin kommen."
War denn der Aufstieg in die Super League von Anfang an ein definiertes Saisonziel?
"Unser Ziel war es immer, uns als Spitzenteam zu etablieren und so lange wie möglich oben mitzuspielen. Wir haben nicht die gleichen finanziellen Mittel wie andere, aber das ist zweitrangig. Wenn wir sechs oder sieben Runden vor Schluss immer noch dort oben stehen, müssen wir nicht diskutieren: Dann will jeder von uns den Aufstieg. Jeder Sportler will das Maximum herausholen. Aber wir machen jetzt keine grosse Geschichte daraus. Wir schauen von Wochenende zu Wochenende - das klingt zwar langweilig, ist aber die einzige Kunst, um am Ende wirklich etwas zu erreichen."
Den letzten Aufstieg des FC Vaduz 2020 haben Sie hautnah miterlebt. In der Barrage, als unterlegener Trainer des FC Thun.
"Das ist schon lange her und war ein schmerzhafter Teil meiner Geschichte mit Thun. Aber das ist abgeschlossen. Ich war seither bei mehreren Klubs. Deshalb würde ich nicht sagen, dass sich für mich persönlich ein Kreis schliesst, wenn wir es jetzt mit Vaduz schaffen würden. Es wäre unheimlich toll, aber nicht als Wiedergutmachung für früher, sondern als Lohn für die Arbeit, die wir heute leisten."
Der Lohn könnte auch ein Engagement bei einem grösseren Klub sein. Oder kann man sich beim FC Vaduz überhaupt für grössere Aufgaben empfehlen?
"Der FCV ist für jeden ein Sprungbrett. Für Spieler genauso wie für Trainer. Wenn wir erfolgreich sind, weckt das Begehrlichkeiten. Aber man muss auch schätzen, was man hat. Man sollte nicht alles auf Spiel setzen, nur weil man woanders vielleicht zwei Franken fünfzig mehr verdient. Mir ist Loyalität wichtig. Wer hat mir die Chance gegeben, als es für mich persönlich vielleicht gerade schwierig war? Das gilt für mich als Trainer genauso wie für die Spieler."
Im Rheinpark Stadion herrscht oft eine eher bescheidene Kulisse. Spüren Sie im Umfeld, dass Ihr Team so eine gute Saison spielt?
"Der Liechtensteiner bricht nicht so schnell in Euphorie aus. Er registriert positiv, wenn es läuft, aber die Zuschauerzahlen schiessen deswegen nicht plötzlich durch die Decke. Man muss das relativieren: Vaduz hat 5000 Einwohner. Wenn 1500 Leute kommen, ist das im Verhältnis viel. Ich vergleiche das gern mit meiner Zeit in Thun: Man muss Sorge tragen zu den Leuten, die kommen. Diese sind im Moment glücklich und haben Freude an unserem Fussball. Das ist schön."
Apropos Thun. Als TV-Experte beobachten Sie auch Ihren Ex-Klub genau. Überrascht es Sie, dass die Thuner als Leader der Super League in die Winterpause gehen könnten?
"Dass sie so weit vorne stehen, hätte ich vor der Saison vielleicht nicht getippt. Aber wenn man sieht, wie sich die Mannschaft über die Zeit entwickelt hat, überrascht es mich nicht. Dieser Erfolg ist organisch gewachsen. Die Thuner praktizieren in der Super League genau den gleichen Fussball, den sie schon in der Challenge League gespielt haben. Dazu kommt, dass die vermeintlich "Grossen" der Liga schwächeln oder inkostant sind. Schauen Sie sich Lugano an, das am Anfang grosse Mühe hatte, oder die Young Boys, die erst nach einem Trainerwechsel wieder Stabilität finden. Auch Basel und Zürich punkten nicht so, wie man es eigentlich erwartet. Diese Situation kommt Thun entgegen. Aber das Wichtigste ist: Sie machen ihren Job gut und bleiben sich treu."
Sich treu zu bleiben, bedeutet in Thun auch Kontinuität und Ruhe.
"Das Beispiel des FC Thun ist das beste Argument gegen den Aktionismus im Fussball. Man sieht einen klaren Weg über drei Jahre unter Mauro Lustrinelli. Die Verantwortlichen hatten Zeit, etwas aufzubauen. Wenn man seriös arbeitet und Kontinuität walten lässt, ist die Chance auf Erfolg einfach grösser. Insofern ist Thun ein Vorbild für alle Klubs. Oft ist die Gefahr gerade bei grösseren Vereinen viel höher, in Aktionismus zu verfallen, weil die Erwartungen von aussen riesig sind. Aber genau dort macht man die grössten Fehler. Man darf den Kopf nicht verlieren, nur weil man sich plötzlich für etwas Besseres hält."