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Marlen Reusser: «Die Tour de Suisse ist ein Highlight meiner bisherigen Karriere»

Patrick

Am Samstag fällt der Startschuss zur zweiten Tour de Suisse der Frauen nach der Neulancierung im vergangenen Jahr. Zu den Mitfavoritinnen auf den Gesamtsieg zählt die Olympia-Zweite im Zeitfahren Marlen Reusser (31, SD Worx). Vor dem Start in die vier Etappen umfassende Landesrundfahrt unterhielt sich die erfolgreichste Schweizer Strassenfahrerin mit Sky Sport.

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Daumen hoch: Marlen Reusser gehört bei der Tour de Suisse der Frauen zu den Mitfavoritinnen auf den Gesamtsieg © IMAGO / Belga

Sky: Siegerin beim Klassiker Gent-Wevelgem, dritter Platz bei Lüttich-Bastogne-Lüttich und Gesamtsieg bei der Baskenland-Rundfahrt. Deine bisherige Saison verläuft sehr erfolgreich. Welcher Triumph war für dich persönlich der Schönste und weshalb?

Marlen Reusser (MR): Es ist für mich immer schwierig, Erfolge miteinander zu vergleichen, zumal es sich um komplett unterschiedliche Rennen handelt. Gent-Wevelgem, z.B., war sehr speziell, da die Entscheidung hier sonst immer im Zielsprint fällt. Wie oft haben wir schon erfolglos versucht, zu einem früheren Zeitpunkt eine Entscheidung herbeizuführen. Umso überraschender war es dann, dass ich die Möglichkeit bekommen habe, wegzufahren und dann auch in der Lage war, bis ins Ziel durchzuziehen. Auch den Erfolg in der Baskenland-Rundfahrt habe ich nicht zwingend erwartet. Ich wusste um meine gute Form, dass ich aber in der Lage sein würde, diese auch in den Steigungen auszuspielen, konnte ich nicht zwingend erwarten. Und auch wenn Platz 3 auf dem Papier nicht ganz mit meinen beiden Siegen mithalten kann: Wer mein Rennen bei Lüttich-Bastogne-Lüttich mitverfolgt hat, wird nachvollziehen können, wie grosse meine Freude über meine Leistung und das finale Ergebnis gewesen ist.

Sky: Nach deinem Wechsel zum Team SD Worx hast du dich in den letzten eineinhalb Jahren sportlich noch einmal weiterentwickelt. Worauf führst du das zurück?

MR: Ich glaube, dass ich schon 2021 sehr gut in Form war. Man hat meine Karriere damals einfach noch nicht so genau verfolgt – möglicherweise auch weil ich in einem etwas schwächeren Team fuhr – aber ich feierte in jener Saison Etappensiege, beendete die Vuelta im Gesamtklassement auf Rang 2 und sicherte mir an EM, WM und Olympia Medaillen. Entsprechend habe ich eher das Gefühl, dass meine Form in der letzten Saison nicht optimal war. 2022 war ein sehr schwieriges Jahr, ich war viel krank, viel verletzt und es fühlte sich eigentlich das ganze Jahr über so an, als ob ein ständiger Formabbau stattfinden würde. Umso glücklicher bin ich, dass ich trotzdem gute Resultate erzielen konnte.

Des Weiteren kommt die Stärke meines Teams dazu. Bei SD Worx verfügen wir über sehr viele sehr gute Fahrerinnen, so dass wir in der Lage sind, für eigentlich jede Rennsituation eine taktische Antwort oder Lösung bereit zu haben. Das erlaubt es mir, meine Stärken voll auszuschöpfen, im Wissen, dass meine Teamkolleginnen das Rennen jederzeit kontrollieren können, was es für die Konkurrenz sehr schwer macht, einem Rennen noch einmal eine andere Wendung zu geben. Umgekehrt setze ich meine Stärken natürlich auch ein, um fürs Team zu fahren und meine Teamkolleginnen zu unterstützen. Und schliesslich habe ich mich als Rennfahrerin auch weiterentwickelt, mich speziell beim Lesen von Rennsituationen und renntaktisch verbessert.  

"Die Entwicklung meiner Karriere hat mich überrascht"

Sky: Bekanntermassen bist du erst spät zum Radsport gekommen. Zuerst hast du dein Studium abgeschlossen und als Ärztin gearbeitet. Ist das ein Karriereweg, den du auch anderen empfehlen würdest oder fragst du dich manchmal, wo du jetzt sportlich stehen würdest, wenn du früher auf die Karte Sport gesetzt hättest?

MR: Ich bin der Meinung, dass mein später Einstieg sicher kein Nachteil gewesen ist. Gerade in Sportarten, in welchen die Ausdauer eine grosse Rolle spielt, vergibt man sich dadurch wenig bis nichts. Denn was die technischen Aspekte im Radsport anbelangt bin ich ein gutes Beispiel dafür, dass man sich diese auch zu einem späteren Zeitpunkt noch aneignen kann, möglicherweise sogar zu seinem Vorteil. Die Tatsache, dass ich mir diese Fähigkeiten ganz bewusst und systematisch erarbeitet habe, hat meiner Meinung nach nämlich dazu geführt, dass ich mich mittlerweile zu einer technisch überdurchschnittlichen Fahrerin entwickelt habe.

Hinzu kommt noch ein anderer Aspekt, der oft vergessen geht. Als etwas ältere Fahrerin mit abgeschlossener Berufsbildung bin ich möglicherweise etwas gelassener unterwegs als Konkurrentinnen, die weder über die gleiche Lebenserfahrung noch über einen Plan B verfügen, falls es mit dem Radsport nicht klappt. Diesen zusätzlichen Druck, der einem auch die Freude am Radsport nehmen kann, spüre ich nicht. Und dass man sein physisches Talent, den inneren Motor, über die Jahre weiterentwickelt, ehe man es komplett ausschöpft, ist ohnehin ein typisches Merkmal von Ausdauersportarten.

Sky: Parallel zu den Erfolgen von dir und anderen Schweizer Radsportlerinnen hat auch die Bedeutung des Damen-Radsports in der Schweiz und international zugenommen. Hättest du zu Beginn deiner Karriere geglaubt, dass du ein paar Jahre später an einer Tour de Suisse der Frauen teilnehmen würdest?

MR: Ehrlich gesagt habe ich mir darüber gar nie Gedanken gemacht. Ich war eigentlich immer überrascht davon, wie sich meine Karriere entwickelt hat, dass ich plötzlich an einer EM, einer WM oder an Olympischen Spielen fuhr und die Möglichkeit bekam, Radsport professionell zu betreiben. Nichtsdestotrotz bin ich natürlich sehr erfreut über die Entwicklung, welche in den vergangenen Jahren eingesetzt hat. Wobei ich auch hier einschränken möchte: Vor meinem Wechsel in den Radsport war mir aus meinem regulären Berufsleben gar nicht bewusst, wie sehr es diese Entwicklung braucht. Wie rückständig der Radsport in vielen Bereichen noch heute unterwegs ist, wie ungleich sich die Situation für Frauen und Männer oft darstellt und wie wenige Frauen in der Männerdomäne Radsport überhaupt in einer Position sind, um Veränderungen einzuleiten. Umso toller finde ich die Entwicklung in den letzten Jahren, in denen in relativ kurzer Zeit einiges bewegt und verbessert wurde. Schön wäre, wenn wir in einigen Jahren gar nicht mehr über dieses Thema diskutieren müssen.

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Die Tour de Suisse gehört seit diesem Jahr zur UCI Women's World Tour, der höchsten Rennkategorie im Frauen-Radsport

Sky: Wie zufrieden bist du mit der Entwicklung des Damen-Radsports und wo siehts du den grössten Nachhol- oder Handlungsbedarf?

MR: Wir haben im Frauen-Radsport in diversen Bereichen Aufholbedarf. Gleichzeitig hat sich aber auch schon einiges verbessert, es wurde vieles angestossen und es geht mir auch nicht darum, unseren Sport am Ende des Tages 1:1 mit den Männern vergleichen zu können. Was ich mir jedoch wünschen würde – nicht nur im Radsport, sondern generell in der Gesellschaft – ist ein unvoreingenommener Blick auf beide Geschlechter und der Anspruch, beiden gleichsam offen und respektvoll gegenüberzustehen. Auch der Damen-Radsport bietet enorm spannende Rennen, tolle und interessante Charaktere und wenn diese Aspekte in der Berichterstattung zu kurz oder gar nicht vorkommen und es so kaum eine Möglichkeit gibt, Interesse zu fördern und zu entwickeln, ist das schade. Dabei kann die Erwartungshaltung nicht sein, dass man unseren Sport innerhalb weniger Jahre auf das Niveau der Männer erheben kann oder muss, welche sich selbst über Jahrzehnte hinweg entwickelt haben, um das heutige Level zu erreichen. Aber im Ansatz müsste das sowohl im Sport als auch in der Gesellschaft unsere Haltung sein.

Sky: Abschlussfrage - welches Ziel verfolgst du an der Tour de Suisse?

MR: Ich freue mich extrem auf die kommenden Tage und würde sogar so weit gehen, dass die bevorstehende Tour de Suisse für mich zu den Highlights meiner bisherigen Karriere zählt. Sportlich sind wir glaube ich in der Position, uns den Gesamtsieg zum Ziel setzen zu können. Ob dazu schlussendlich ich oder Demi Vollering (NED, 26) in der Lage sein werden, wird sich im Verlauf der Tour weisen, aber für mich ist klar, dass wir in der Schweiz gerne gewinnen möchten.  

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